D A S G
E S C H E N K
von Sandra Wagner
Bei Tageslicht
sieht alles viel freundlicher aus - dieser Behauptung hätte
Cyrus niemals zugestimmt. Im Gegenteil, zeigte doch das
Tageslicht alles Hässliche mit gnadenloser Offenheit. Wie viel
freundlicher wirkte hingegen die Nacht, wenn sie ihr schwarzes
Kleid über die Stadt streifte und man darunter Verstecken
spielen konnte.
Ich beobachte
ihn, sein Schweigen genießend, die trüben Gedanken. Und och weiß
er nichts von meiner Existenz. Niemand weiß. Ich beobachte. Dann
schwindet alles und ist fort. Wie ein Vorhang, den man nicht
fallen sah. Aber ist es bereits geschehen? Erinnerte ich mich bloß?
Verlor mich in Erinnerungen? Oder findet es statt? Das Jetzt: Ich
beobachte sein Spiegelbild und das der Brut um ihn herum, die
mich nicht sehen, nicht anblicken kann. Wie ein Geist, ein
eiligst verschwiegener Irrtum. Ich bin, was ich war. Sein werde.
Ein Zeitreisender, niemals ganz sicher, was die Gegenwart sein
soll. Werde ihn weiter beobachten, vielleicht ihm schließlich
ein Geschenk machen. Eines, über das sich nur Wahnsinnige und
Dichter zu freuen vermögen... Endstation.
Der zartgliedrige
junge Mann, eigensinnig und nicht zu der Sorte von Menschen gehörend,
die sich für etwas begeistern lassen, wenn man nur lange genug
auf sie einredet, träumte. An manchen Abenden sank er voller
Erwartung in sein Bett und wartete darauf, dass sein Traum ihn
besuchte.
Ich verfolge.
Manchmal jage ich mit wehenden Stoffbahnen wie Flügel in nächtlichen
Winden ausgebreitet. Manchmal verfolge ich tatenlos, während die
Tage zu Stunden zerfließen und diese zu Jahren. Manchmal bin ich
der Verfolgte, verfolgt von meinen Flüchen und Verwünschungen,
von den Uhren und Schatten, den Sonnenauf- und Untergängen.
Manchmal bin ich auch nur ein Mörder, so stolz auf seine
Bestimmung, dass er sich zuzugeben weigert, in Wahrheit Richter
zu sein. Wie Sensen glitzern die Fänge im Schneesturm meines
Gesichtes. Die Augen jedoch gehören den Sternen. Deshalb bin ich
nicht wie die Anderen, die anderen Anderen, die sich der Brut so
überlegen glauben ob ihrer leiblichen Kraft und Geschicklichkeit.
In ihrer Ergebenheit dem eigenen Biest gegenüber gleichen sie
eher den Tieren, instinktgetriebenen Bestien. Und sie glauben
sich über den Menschen gestellt! Nichts als Staubkörner. Dieser
Junge, er ist wirklich anders.
Ein unbekanntes
Wesen verfolgt ihn. Cyrus läuft weg, ohne zu wissen, ob es ihm
etwas Böses will. Schneller und schneller. Hart hallen seine
Schritte auf dem Pflaster wider. Er wagt nicht, sich umzudrehen.
Das hinter ihm scheint lautlos, ja kann es denn fliegen?
Irgendwann gerät er an einen Abhang, Endstation. Keuchend hält
er sich die schmerzende Brust. Lässt sich fallen. Tiefer,
schneller. Gedanken nehmen Abschied. Plötzlich ändert sich die
Richtung, er biegt steil in die Höhe. Cyrus fliegt! Um nicht
abzustürzen, muss er Schwimmbewegungen machen. Mit der Angst
weichen Überdruss und Zwänge. Nach solch einem Traum fällt das
Erwachen schwer. Manchmal hätte Cyrus gerne gewusst, wer ihn
verfolgt. Waren es seine Sorgen, Alltagsgifte und
Verpflichtungen, die ihn gebündelt zu überrollen drohten? Er
sah nie hin.
So wirst du
keine Klarheit über die Identität deines Verfolgers erhalten,
der kein Geringerer ist als ein Verfolgter der Zeit. Du ahnst
mich, manchmal lässt du dein Buch sinken und schaust verwundert
ins Nichts, horchst in die Öde. Du bist seit langem der erste
Mensch, den ich auswähle. Ein besonderes Geschenk wird dir
zuteil, mein unwissender Freund. Ich schließe die Augen und öffne
sie wieder, es macht keinen Unterschied. Wie beneide ich dich um
jene stillen Stunden des völligen Rückzugs, wenn du deinen Körper
in die Laken schmiegst und auf einen Traum wartest. Auf mich.
Schlaf nennt Ihr das. Ich habe das Gefühl fast vergessen, wie es
ist, die Sinne zu drosseln und vorübergehend zu erschlaffen.
Meine Zellen erneuern sich dreimal schneller als Eure. Ihr
Luxusgeschöpfe, die Ihr einen Teil Eures Daseins Schlaf nennt.
Mein Luxus ist die Wahl, wem ich mein Geschenk mache.
Cyrus ist müde.
Nach wenigen Seiten sinkt Lord Byron mit ihm in die Matratze.
Cyrus läuft, rennt. Seine Schritte machen Lärm in der nächtlichen
Stille, mit der er allein ist. Allein in der Straße, der Stadt,
in der Welt. Sein lautloser Verfolger wird ihn heute einholen.
Der Abhang, er will nicht auftauchen. Statt dessen läuft Cyrus
auf eine Mauer zu. Endstation. Er fährt herum, starrt laut
atmend auf den Boden, der Puls rauscht in seinen Ohren. Mit einem
Mal reißt er den Blick hoch. Spürt Nähe. Horcht. Seine Adern
gehorchen und öffnen sich. Verwunderung bleibt an ihm kleben,
als er übertritt. Und seine Augen gehören den Sternen...