Der Biss

 

Es war ein berauschendes Gefühl, das mich überkam; ein Gefühl, als hätte ich Weltreiche erobert und als lägen Könige mir zu Füssen. Es war, als schwebte ich am schwarzen Nachthimmel, erhaben über all das unter mir...Die fremde Haut fühlte sich seidig und vertraut an, wie samtenes Gewand berührte sie die meine. In regelmäßigen Zügen atmend, jedoch schlafend, lag das begehrte Wesen vor mir.

Längst war jede störende Hülle gefallen und das durchs Fenster einfallende Licht des fahlen, vollen Mondes tauchte die weiße Haut in ein mystisches Gewand.

Immer größer wurde die Gier nach dem warmen Fleisch. Zitternd fuhren meine Hände über den wie zum Opfer bereit vor mir liegenden Körper und erneut packte mich die Gier; das fatale, unbändige Verlangen nach diesem göttlichen Geschöpf...göttlich, doch war es kein Kainskind, wie ich eines war...Sanft strichen meine Finger durch das weiche, glänzende Haar, über die bleichen Lippen. Unwiderstehlich waren diese Berührungen...Still küsste ich jenes wunderbare Wesen, wehrlos ertrug es meine kalten Lippen.

Ich wurde durchflutet von einem noch göttlicherem Gefühl, das Verlangen wuchs von Sekunde zu Sekunde. Ich bedeckte den geliebten Körper mit kalten Küssen, schmeckte die verlockend weiße Haut. Nein, es gab keinen Weg mehr zurück...Meine Ekstase gipfelte in einem leidenschaftlichen Biss. Das aus dem wunderschönen, schneeweißen Hals hervorquellende Blut war roten Tränen gleich...edler, als jeder Wein. Süßer, als jeder Honig. Reiner, als der Morgentau. Frischer, als jedes Quellwasser. Und es war warm...so warm, wie das Leben...

Ich ließ dieses kostbare Getränk über meine Lippen rinnen, ich trank - nein, ich saugte jeden Tropfen aus dem Wesen, das ich einst zu lieben glaubte. Jetzt war da nur noch die Gier, das Verlangen nach mehr, immer mehr...Doch plötzlich ließ der Rausch nach. Reue überfiel mich. Was hatte ich getan ?

Ich hatte nie die Absicht gehabt, dieses Geschöpf zu töten. Doch es atmete nicht mehr...Ich hatte ihm das letzte geraubt, das es noch besaß, - das Leben, das ich schon vor langer Zeit für immer verloren hatte. Vom unsinnigen Glauben besessen, es einmal wiederzuerlangen, hatte ich getötet, schon wieder getötet...hatte ich doch einst geschworen, meinen schmerzlichen Verlust an niemandem zu rächen, keine unschuldigen Kreaturen mehr zu töten...

Doch konnte ich das geschehene, vollendete Werk nicht mehr rückgängig machen und so verließ ich schweigend den Raum. Mit meinem geliebten Geschöpf war auch ein Teil von mir gestorben. Ich hasste mich dafür, dieses Wesen der Welt der Lebenden entrissen zu haben. Es war noch so jung...so jung, wie ich war, als man mir das Leben stahl. Ich kannte diesen schrecklichen Schmerz, trug ich ihn doch schon Ewigkeiten in mir. Gefangen zwischen Leben und Tod, unfähig zu leben, unfähig, zu sterben. Erfüllt nach der Sehnsucht nach einem von beiden...ob Leben oder Tod ? Ich weiß es nicht.

Mein einziger Trost war, dass jenes zauberhafte Wesen einen stillen, sanften Tod gefunden hatte und nicht für immer den Schmerz spüren musste, der in mir wohnte.

Mit dem wortlosen, unbesiegelten Schwur, niemals mehr zu töten, schritt ich in die Nacht hinaus. Doch schon als ich den Mantel zum Fluge hob, wurde es mir zur quälenden Gewissheit, dass ich, von meinem Fluch gezwungen, dieses grausame Schauspiel auch in der nächsten Nacht wieder erleben würde. Und wie jede Nacht würde der letzte Vorhang erst fallen, wenn ein unschuldiges Wesen den Tod gefunden hatte...

 

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