Der dunkle Keller

 

Müde kauerte Sophie auf der Couch. Geistesabwesend folgte sie dem Thriller. Schrille, actiongeladene Szenen jagten über den Bildschirm. Blutüberströmte Detectives verfolgten die Gangster. Sophie atmete auf, als endlich die Werbepause kam.

Warum tu‘ ich mir das an?, schoss es ihr durch Kopf. Warum sehe ich mir solche Filme an, die meine Fantasie in eine Paranoia verwandeln?

Gähnend erhob sie sich. Schröder und Mücke, ihre Katzen, waren noch draußen.

Rasch schlüpfte sie in ihre Strickjacke, nahm die Taschenlampe von der Kommode und steckte den Schlüsselbund ein.

Als sie die Haustür öffnete, strömte ihr eisige Herbstluft entgegen.

Irgendwo da hinten knackte ein Zweig, automatisch schloss sie die Tür bis auf einen kleinen Spalt.

„Mücke! Schröder! Na nun kommt schon, ihr Rabauken!“

Wieder ein Knacken, dann knirschten kleine hastige Schritte über trockenes Laub.

Sophie starrte konzentriert bis zur anderen Straßenseite hinüber. Irgendwo in dieser ungewissen, nebelumflorten Dunkelheit, stapelte sich der Sperrmüll des ganzen Wohnblock – doch da war etwas.

Hastig sah sie sich um, die Straße blieb leer, nur der Nebel schlängelte lautlos näher, teilte sich und formte dürre, schwebende groteske Figuren, die über den feuchten Asphalt krochen.

Unwillkürlich warf Sophie die Haustür zu und mit zitternden Händen drückte sie den Lichtschalter. Mit klopfendem Herzen lehnte sie sich an die Wand – atmete tief durch, zählte von zehn rückwärts.

Langsam kam die Erinnerung, warum sie im zugigen Hauseingang stand, zurück. Wo waren ihre Katzen?

Waren sie ihr gefolgt, als sie den Korb mit der Schmutzwäsche in den Waschkeller brachte?

Allein bei dem Gedanken, dass sie jetzt die Kellertür öffnen sollte, durchzog sie ein fröstelnder Schauer. Zu Kellern hatte sie seit Kindheit an ein gestörtes Verhältnis. Trotzig warf sie den Kopf in den Nacken und beschimpfte sich selbst als blöde Kuh.

Nie wieder würde sie sich einen Thriller ansehen, wenn sie alleine war, und,  was sollte an einem Keller anders sein, als an einem Treppenhaus, einer Abstellkammer, oder dem Gerümpel auf dem Dachboden?

Mit einem ärgerlichen Kopfschütteln fegte sie das Unbehagen weg und sperrte die Tür auf.

Staubiger, modriger Geruch kroch in ihre Nase.

Es riecht, als wäre jemand da unten gestorben, dachte sie.

Fröstelnd raffte sie ihre Strickjacke enger um ihre Schultern, räusperte sich, um ihrer Stimme mehr Halt zu geben und rief mit lockender Stimme nach ihren Katzen.  Sie wartete, doch ihre Vierbeiner kamen nicht. Vielleicht lauerten sie unter der Treppe? Ganz besonders Schröder fand Gefallen daran plötzlich und unerwartet aufzutauchen.

Bevor sie die beiden Stufen zum Lichtschalter hinabging, drehte sie sich noch einmal um und warf einen nervösen Blick zurück.

Wie von Geisterhand schnarrte die Tür ins Schloss.

Sophie erstarrte, als sie auf einmal ein eigenartiges, schabendes Geräusch vernahm und ein eisiger Luftzug sie streifte. Es war ihr, als würde jemand an ihr vorbeihuschen

Schwer atmend lehnte sie sich an die Mauer, beugte sich leicht vor und spähte die Treppe hinter. Die Dunkelheit wirkte wie ein riesiges Maul, das alles verschlang.

Grünlich schimmernder Nebel waberte die Kellertreppe empor, wurde dichter und umwogte sie wie eine brusthohe, lebende Mauer. Mit zitternden Fingern knipste sie die Taschenlampe an und richtete den weißen Lichtstrahl auf die Stufen.

Plötzlich drang ein gedämpftes Wimmern an ihr Ohr – ganz leise, so als käme es von ganz weit her. Das Licht hüpfte hin und hier, bohrte sich durch den grünlich wabernden Nebel.

„He, ist das jemand?“, rief Sophie.

Ihre Stimme klang hohl und hallend im undurchdringlichen Dunkel. 

„O ja“, wisperte es ihr entgegen. Entsetzt lehnte sich Sophie mit dem Rücken an die feuchte Wand und rang nach Atem.
Im Keller ist niemand, beruhigte sie sich leise. Und wenn, dann war es dieser Witzbold Frank! Frank, fünfzehn Jahre, Horrorfreak, trieb sich in der Szene rum!  Pflasterte sein Zimmer mit den scheußlichsten Horrorpostern. Und außerdem ist es ein altes Haus. Alte Häuser sind voller Geräusche, das Knarren, Stöhnen und Ächzen hört man überall – und Wimmern.

Das Wimmern! Da war es wieder.

Entschlossen wandte sie sich ab.

„Lalelu, nur der Mann im Mond schaut zu...“, sang ein feines Stimmchen, brach plötzlich das Lied ab und kicherte albern.

Dieses Lied! Sophie stockte der Atem, gleichzeitig durchrieselte sie ein eisiges Zittern. Also doch! Irgendso ein Spaßvogel trieb einen Scherz mit ihr.

Die Taschenlampe fest in einer Hand, die andere Hand gegen die feuchte unverputzte Wand gepresst, machte sie sich langsam, Schritt für Schritt, auf den Weg nach unten.

Der Lichtstrahl durchzuckte die Finsternis. Auf der letzte Stufe blieb sie stehen.

„Frank!“, rief so. „Los, komm raus!“.

Angestrengt starrte sie in den weißen Lichtkreis und lauschte.

Es herrschte eine drückende Still, so drückend wie die feuchte, modrige Luft. Da! Wieder dieses feine Wimmern, ein Keuchen!

Sie wollte rufen, doch die Worte rollten wie ein erstickendes Flüstern durch ihre Kehle.

Staubpartikel tanzten im weiter wandernden Lichtschein. Ein großer, niedriger Raum wurde sichtbar, voll gestopft mit alten Schränken, einer ramponierten Kommode und anderen Möbeln, Dosen und Einmachgläsern und alten, fast bis zur Decke aufgetürmten Zeitungsstößen, davor stand eine Kiste. Ächzend begann sich der Deckel zu heben.

Die Taschenlampe begann in ihren Händen zu zittern, und im wegschwenkenden Licht kroch etwas hervor! Eine kleine, merkwürdig geformte Gestalt... langsam hob sie den Kopf und zeigte mit der winzigen Hand auf sie.

Fassungslos starrte sie in das Puppengesicht!

„Robbi“, hauchte sie. „Robbi! Wie kommst du hierher?“

Panik stieg in ihr auf und ließ ihre Beine schlackern.

Die Puppe setzte sich in Bewegung, tapste einen Schritt auf sie zu.

Das Licht ihrer Taschenlampe glitt bebend über das kalte Puppengesicht.

Die Puppe bewegte vorsichtig ihre Hand, deutete auf ihre Stirn.

Die Erinnerung kroch in ihr hoch. Sophie hatte ihrer Puppe mit Tinte ein drittes Auge gemalt. Robbi konnte so viel mehr sehen als sie und überall hingucken, und abends, wenn sie ihn im Arm hielt, dann erzählte er ihr alles.

Alles über Papa, der so oft nachts nicht nach Hause kam - und von Mama, die immer wartete und so oft weinte.

Wenn Papa dann kam, dann hörte sie seine wütende böse Stimme, dann klatschte es, es klapperte und schepperte – und Mama weinte und flehte und die wütende Stimme wurde noch böser. An Robbi geschmiegt, fühlte sie sich sicher. Robbi tröstete sie, und dann, dann erzählte er ihr von einem Geheimnis im Keller. Er hat es selbst gesehen – mit seinem dritten Auge aus Tinte auf der Stirn.

Er hat gesagt, die böse Stimme muss sterben.

Alle böse Stimmen müssen sterben, weil sie traurig machen – und Mama war immer sehr traurig.

Robbi hat sie gefragt, ob sie will, dass Mama wieder lacht und fröhlich ist. Sophie hat nur genickt! Mit Robbi auf dem Arm ist sie in den Keller gegangen.

Robbi hat ihr im Keller sein Geheimnis gezeigt.

Hinter der Kiste mit den Weihnachtsschmuck war eine große braune Flasche mit einem Totenkopfetikett.  Das war das Geheimnis.

Die Puppe war es gewesen, die gesagt hat, das die Flüssigkeit aus der Flasche mit dem Totenkopf in den Cognac muss.

Und mitten in der Nacht, da hörten Robbi und Sophie, wie die böse Stimme geschrien hat – vor lauter Schmerzen. Der Rettungswagen ist gekommen. Mit Blaulicht und Martinshorn wurde die böse Stimme ins Krankenhaus gefahren.

In der nächsten Nacht hat ihr Robbi erzählt, dass die böse Stimme tot ist. Robbi hat alles gesehen – mit seinem dritten Auge aus Tinte auf der Stirn. Und jetzt war die böse Stimme im Böse-Stimmen-Himmel. Und dann hat ihr Robbi das Lalelu-Liedchen gesungen – wie jeden Abend...

Das helle Licht der Taschenlampe huschte über das bleiche Puppengesicht mit den großen ausdruckslosen Augen.

Das dritte Auge auf der Stirn schien zu zwinkern.

Die Taschenlampe glitt aus Sophies Hand. Der Lichtstrahl tanzte wild über die Wand, als sie wegrollte.

Sophie schrie entsetzt auf und rannte wie von der Tarantel gestochen die Kellertreppe hoch,  stürzte durch die Tür und warf sie knallend ins Schloss.

Mit stechenden Schmerzen in der Brust, als würde ihre Lunge im nächsten Moment explodieren, jagte sie durch das schwach erleuchtete Treppenhaus und warf die Wohnungstür knallend zu.

Im Wohnzimmer setzte sie sich auf die Couch, noch immer vom Grauen benebelt, zitterte sie so stark, dass ihre Zähne klapperte. Fest schlang sie ihre Arme um sich und starrte auf das kleine tanzende Teelicht im Stövchen, das sich in dem schwarzgrauen Monitor spiegelte.

„Das gibt es nicht“, murmelte Sophie halblaut vor sich hin. „Ich... ich ... habe Robbi eigenhändig zu den Sperrmüllsachen geworfen... vorhin, als es noch hell war!“

Plötzlich schabte es an der Tür. Ihr Herz fing wie wild an zu hämmern – sie starrte zur Tür.

„Lalelu“, sang ein feines Stimmchen, „nur der Mann im Mond schaut zu...“

„Hau ab!“, kreischte Sophie entsetzt. „Hau ab!“

„Lalelu“, sang das Stimmchen weiter, brach abrupt  das Lied ab und kicherte teuflisch...

 

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