Thomas Rüter

Rache

 

Jake schrie unter dem Knebel auf, als sein Körper auf den staubigen Holzboden gestoßen wurde und ein reißender Schmerz durch seine Rippen fuhr. Der Junge versuchte sich auf die Seite zu drehen, doch seine mit Klebeband auf den Rücken gefesselten Hände und seine aneinander gefesselten Knöchel behinderten ihn zu sehr. Das Band war auch mehrmals um seinen Mund gewickelt worden. Es mußte alles geschehen sein, nach dem ihn der Fremde mit dem in Chloroform getränkten Lappen überwältigt hatte und er das Bewußtsein verlor.

Jake öffnete gerade in dem Moment die Augen, als er auf den Boden zu raste. Dann kam der Aufprall. Staub wirbelte auf, drang in seine Nase und zwang ihn zu niesen. Seine Brust und sein Kopf schienen dabei fast zu explodieren, da ihn der Knebel behinderte.

Sein Peiniger ging quer durch den Raum, in dem ein altes Foto an einer ansonsten kahlen Wand hing und ein alter Sessel, mit zerschnittenem Sitzpolster.

Jake schaute die Gestalt an, die die Bretter kontrollierte. Es waren fünf an der Zahl. Jemand hatte sie vor das einzige Fenster in dem Raum genagelt. Das Mondlicht fiel durch die Ritzen zwischen den Brettern.

Es war stickig in dem Raum. Jake versuchte die Beine an zu ziehen, um sich hin zu setzen, doch sein Peiniger hatte auch um die Waden und Oberbeine mehrmals Klebeband gewickelt.

„Okay,“ die Stimme war weiblich und kam dem jungen Mann bekannt vor. „Jetzt sind wir endlich unter uns.“

Jake erkannte nur die Silhouette des Mädchens, das an ihm vorbei ging und die Tür schloß. „Jetzt kann ich dir endlich zeigen, daß ich dich wirklich liebe.“

Jake runzelte verwirrt die Stirn. Was redete die da? Wer war sie? Wußte sie nichts, von seiner Freundin?

Die Augen des Jungen wurden groß.

Und ob sie von Linda wußte. Nur zu gut.

Helen war eifersüchtig auf sie, weil Jake nicht ihre Liebe erwiderte. Helen konnte nicht akzeptieren, daß ihr Traummann, eine andere liebte. Eine andere als sie und deshalb war sie seit drei Monaten, so lange ging Jake mit Linda schon,  hinter den beiden her. Wenn sie sich trafen, war Helen in der Nähe, wenn sie miteinander redeten, war Helen irgendwo hinter einem Baum.

Die zwei Teenager machten nun ihre Treffen sehr, sehr geheim aus und endlich hatte die eifersüchtige junge Frau keine Chance mehr, sie zu verfolgen. Das mußte sie rasend machen, denn auf dem Heimweg von der Schule, hatte Helen Linda angegriffen und sie mit einer Fahrradluftpumpe geschlagen.

Wäre da nicht ein Passant gewesen, der Linda half, wäre es wohl zu schlimmeren gekommen. Helen bekam eine Anzeige wegen Körperverletzung und tauchte unter. Bis zu diesem Abend.

Jake war auf einer Geburtstagsfeier. Linda wollte etwas später hin gehen, da sie nebenbei als Babysitter jobbte und an diesem Abend wieder auf das Kind ihrer Nachbarn aufpassen mußte.

Jake war kurz zu einem Gebüsch gegangen, um sich zu erleichtern, als Helen ihn überwältigte.

Wie er war sie 19 Jahre alt. Linda 18.

Sie waren auf dem Gymnasium, in der selben Klasse. Ihr Abschluß stand kurz bevor.

Helen war eine Außenseiterin. Sie schminkte sich blaß, ihre Augen dunkel, wie ihre Lippen, trug schwarze Kleider und hatte dunkel gefärbtes langes Haar.

Sie war ein totaler Gothik-Freak und trieb sich nachts angeblich auf Friedhöfen herum. Ansonsten war nichts über sie bekannt. Was ihre Eltern machten und ob sie irgendwelche Freunde hatte.

Es interessierte halt niemanden.

Jake schaute das Mädchen an, als es sich neben ihn kniete. Er sah ihr bleiches Gesicht und ihre fieses Grinsen. „Hallo, Jackie-Boy. Tut mir leid, daß ich so rabiat sein mußte, doch mal ehrlich... Wärst du etwa freiwillig mit gekommen? Keine Sorge, ich hab auch nicht in deine Hose geguckt. Das hebe ich mir für später auf.“ Sie lachte.

Jake hatte nie Angst vor ihr gehabt. Doch jetzt, wo er ihr hilflos ausgeliefert war, waren seine Knie aus Pudding und auf seiner Stirn bildete sich der Schweiß.

Helen holte ein Messer hervor, was den Jungen unter dem Klebeband aufschreien ließ. Doch statt sein Herz heraus zu schneiden und mit viel Senf auf zu essen, wie er es befürchtete, schnitt sie den Knebel durch und riß ihn brutal ab.

Vor Schmerz verzog Jake das Gesicht. „Verdammt, bist du krank? Was soll das hier?“

„Du hast meine Liebe zu dir nie erwidert, Jake. Linda ist nicht gut für dich. Ich liebe dich wirklich, Jake. Und du sollst mich auch lieben.“ Helen steckte das Messer weg. Sie packte Jakes Kopf, daß er ihn nicht bewegen konnte und preßte ihre Lippen auf seine. Der Junge versuchte ihr zu entkommen. Es gelang ihm nicht.

Als Helen von ihm abließ und aufstand, warf er ihr Verwünschungen und Flüche an den Kopf. Sie ignorierte alles, ging zu dem Sessel und meinte: „Du wirst mich lieben lernen, Jake. Denn wenn ich dich nicht haben kann, soll dich keine haben.“

Jake schaute Helen an. „Lieber sterbe ich, als mit dir eine Beziehung an zu fangen, du Hexe.“

 

2 Monate später:

Die Suche nach Jake ging weiter, doch die Polizisten hatten die Hoffnung inzwischen aufgegeben. Linda nicht. Jeden Tag schrieb sie in ihr Tagebuch, wie groß ihre Angst war, aber auch ihre Hoffnung.

In der Schule beäugte man sie und flüsterte.

Jeder hielt Jake für tot. Nur sie nicht. Linda hatte noch Hoffnung.

 

Helen schaute auf die Holzbretter, aus denen der Boden bestand, herab und schüttelte den Kopf. An einer Stelle konnte man noch schwach erkennen, daß jemand die Bretter heraus gerissen und wieder eingesetzt hatte.

Obwohl dies nun einen Monat her war.

 Helen hatte Jake die Wahl gelassen. Entweder lernte er sie lieben, oder sie würde ihn töten. Und Jake hatte leider die zweite Möglichkeit gewählt. Zu dumm für ihn.

Das Mädchen mit dem schwarzen Kleid bereute nichts. Sie litt nicht mehr da drunter, daß ihre Liebe zu einem Jungen nicht erwidert wurde. Alles war wieder normal.

Nein nicht alles. Es gab da noch etwas, daß Helen erledigen mußte. Es gab einen Grund, warum Jake ihre Liebe nicht erwidert hatte. Und dieser Grund war Linda.

Das Mädchen Schuld daran, daß Jake sterben mußte. Wenn sie ihn nicht los gelassen hätte, würde der Junge noch leben. Sie war die Schuldige. Nicht Helen. Linda hatte Jake getötet. Ihren eigenen Freund. Ihren angeblichen Geliebten.

Helen spürte, wie der Zorn in ihr wuchs. Sie ballte vor Jakes „Grab“ die Fäuste und preßte die Lippen aufeinander. „Verdammte Hure... Ich werde dir alles heim zahlen. Ich werde Jake rächen.“ Sie schaute die Bretter an, unter denen Jakes Leiche lag. „Ich werde dir meine Liebe auch nach deinem Tod zeigen, Jake... Ich werde dich rächen...“

Sie wirbelte herum und verließ die Waldhütte. Jakes letzten Worte schossen ihr durch den Kopf, als sie in Richtung Auto lief.

Helen hatte ihm versprochen, auf Linda auf zu passen. Sich um sie zu kümmern. Jake schrie zornig auf. Speichel benetzte Helens Gesicht, die vor dem Jungen kniete. Er schrie sie an.

„Krümm ihr ein Haar und ich werde dich verdammt noch mal töten.“ Jake war völlig außer sich. Er brüllte und schrie. „Ich töte dich Helen. Bei Gott, ich werde dich töten.“

Das war das einzige und erste mal, daß Helen Angst vor dem Jungen hatte. Obwohl er noch immer mit dem Klebeband gefesselt war, daß Helen manchmal auswechselte. Davor betäubte sie den Jungen. Sie fütterte ihn, redete mit ihm, auch, wenn er sie nur anschrie.

Helen dachte nicht länger daran. Sie stieg in ihren blauen Golf und startete den Motor. Für eine Sekunde sah sie wieder Jakes Blut an ihren Händen. Es war in einer Fontäne aus seiner Kehle gespritzt, als Helen sie ihm mit einem großen Messer durch schnitt. Es verteilte sich über den Boden, über Helens Kleid und ihr Gesicht. Eine verdammte Drecksarbeit, das alles wieder sauber zu machen.

Jakes Flüche gingen in einem Gurgeln unter, doch sein Haß war ungebändigt. Er war so groß, wie die Angst um Linda.

 

Linda öffnete die Augen. Sie konnte sich an die letzten Stunden nicht erinnern. Da war nur Schwärze um sie herum. Der Mond warf sein Licht durch die Ritzen, die zwischen den Brettern vor dem Fenster waren.

Linda runzelte die Stirn und versuchte sich auf zu setzen. Erst da bemerkte sie, daß sie an Händen und Füßen mit Klebeband gefesselt war. Das Mädchen schrie auf. „Oh, Gott.. Hilfe... Hiiiilllfffeeeee...“ Sie brach in Tränen aus, wälzte sich herum und lag nun auf dem Bauch. Sie stützte sich mit den Händen ab, setzte sich hin und sah die Gestalt in dem Sessel.

Linda schwieg. Ihr schulterlanges, gelocktes Haar fiel ihr ins Gesicht. Sie konnte ihren Peiniger nicht erkennen. In dem Zimmer war es zu dunkel. Doch was der Fremde da in der Hand hielt, erkannte Linda auf Anhieb. Ein Fleischermesser. Ein verdammtes Messer.

Linda holte tief Luft. „Bitte... Was haben sie mit mir vor?“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein Schluchzen.

Helen zögerte. „Du hast dich nicht so sehr gewehrt wie Jake, als ich ihn betäubte. Mann, hat der gekämpft.“

Linda runzelte die Stirn. „Jake? Wo ist er?“

Helen betrachtete ihre Geisel. „Als wenn dich das interessieren würde, du verdammtes Miststück. Du hast ihn nie wirklich geliebt. Wer warst du denn, bevor du mit ihm zusammen gekommen bist? Ein Niemand.“ Helens Stimme klang rauh. Gefühllos. „Du wirst sterben, Linda. Ich werde dich töten.“

„Wieso?“ schluchzte Linda. „Was habe ich getan?“

„Das fragst du noch?“ kreischte Helen und sprang auf. Ein schmaler Lichtstreifen fiel auf ihre dunklen Augen. „Das fragst du noch, du verdammte Hure? Das fragst du noch?“

Linda erkannte das Mädchen. „Helen... Oh, mein Gott... Wieso tust du das? Wo ist Jake?“

Helen deutete auf die Bretter unter Linda. „Du kniest gerade auf ihm, Kleines.“

Linda schaute an sich herab, begriff aber nicht sofort. Sie guckte wieder Helen an. „Was?“

„Du kniest auf ihm.“

Linda bekam den Mund nicht zu. Vor Schmerz verzog sie das Gesicht. Tränen kullerten über ihre Wangen. „Neeeeiiinn... Mein Gott... nein...“ Sie schluchzte. Ihr Körper bebte.

„Hör auf damit, du Miststück. Du hast ihn umgebracht!“ sagte Helen und kam auf sie zu. „Wenn du ihn los gelassen hättest, wäre das nie passiert. Ich hätte ihn niemals töten müssen, wenn du ihn einfach los gelassen hättest.“

Linda schüttelte den Kopf. „Was redest du da? Du bist ja total verrückt. Wir haben uns geliebt und nur weil du das nicht ertragen konntest, hast du ihn...“

„Halt’s Maul.“ schrie Helen und schlug Linda ins Gesicht. „Ich war das nicht. Du hast ihn getötet. Nur du bist Schuld.“

Linda senkte den Kopf. Ihre Wange schmerzte, wo sie der Schlag erwischt hatte. „Du bist krank, Helen. Du bist total krank. Du brauchst Hilfe.“

Helen grinste, schüttelte den Kopf. „Oooohhh, nein. Ich nicht.“ Sie kniete sich vor Linda und sagte leise: „Du bist es, die Hilfe braucht.“

Linda sah vor ihren Augen etwas aufblitzen, spürte den schneidenen Schmerz in der Kehle und wie das Blut ihre Lungen füllte, an ihrem Hals herab rann. Es benetzte Helens Gesicht. Ein Tropfen traf ihre Lippen. Sie leckte mit der Zunge drüber und sagte leise, beinahe flüsternd. „Doch dir wird niemand helfen, Linda. Du stirbst allein. Und deine Leiche werde ich nicht vergraben. Ich werde dich verbrennen. Vielleicht esse ich auch etwas von deinem Fleisch. Vielleicht esse ich dein Herz, deine Gedärme.“

Helen lachte, doch Linda konnte sie schon gar nicht mehr hören.

Was Helen hörte, war ein Kratzen. Ihr Lachen verstummte und sie lauschte. Ihr Blick fiel auf die Bretter, unter Lisa. Von dort kam das Geräusch. Helens Augen wurden groß. Aber das war unmöglich. Da unten konnte nichts lebendes sein. Das Mädchen wich zurück. Sie hatte Jake getötet, seinen Puls gefühlt. Er war tot. Mausetot.

Maus...

Helen schoß das Wort durch den Kopf. Mäuse hatte sie noch keine in dieser Hütte gesehen, aber Ratten. Da unten waren sicherlich Ratten, die an dem Holz nagten und an Jakes Leiche. Eine andere Erklärung gab es nicht. Da unten, überlebte niemand einen Monat. Schon gar nicht mit durch geschnittener Kehle.

Es waren die Ratten, die Helen so einen Schrecken einjagten. Nur die Ratten.

Das Mädchen schleifte Linda von dem Grab weg und machte sich daran, die Bretter aus dem Boden zu reißen. Es konnten nur die Ratten sein, doch das Mädchen wollte Gewißheit haben. Sie mußte es genau wissen. Ein Brett folgte dem andren und bald lag Jakes Leiche frei. Tatsächlich war er von den Tieren angenagt. Die Fesseln hatten sie völlig gelöst. Das rechte Auge, die Lippen, Haare und die Nase fehlten. Die Kleidung, Jakes Jeansjacke und seine Hose, waren angefressen. Das linke Ohr hing nur nicht an dem Kopf. Die Wangen waren eingefallen.

Helen rümpfte die Nase. Der Körper stank bestialisch. Sie wollte gerade wieder die Bretter über die Leiche legen, als ihr etwas klar wurde. Das Geräusch war ihrer Meinung nach von Ratten verursacht worden. Doch das Problem war...

Da unten waren keine Ratten zu sehen.

„Oh, Schei...“ Ehe Helen aussprechen konnte, schoß Jakes tote Hand nach oben und umklammerte ihren Hals wie ein Schraubstock. Der Tote erhob sich, setzte sich auf und öffnete den Mund. Seine Stimme war rauh. Erde fiel von seiner Haut, als er den Kiefer bewegte. „Ich habe dir ein Versprechen gegeben, meine Liebe. Und das werde ich jetzt halten.“

Helen bekam keine Luft. Sie röchelte, konnte nicht schreien oder den Griff lösen. Ihr Mund und ihre Augen standen weit offen. Jake starrte sie mit seinem toten Auge an. Es schien, als würde er grinsen. „Komm, gib deinem Jackie-Boy einen Kuß.“

Er zerrte das Mädchen mit sich in das Grab. Die Bretter die, drum herum lagen, zitterten auf einmal, bebten und klapperten auf dem Boden. Dann rutschten sie über dem Boden und verankerte sich wieder in den Stellen, wo Helen sie heraus gerissen hatte. Eine dicke Staubschicht bildete sich über dem Grab. Zurück blieb Lindas Leiche, die man zwei Wochen später fand.

Das Verschwinden von Helen und Jake blieb ungeklärt. Ihr gemeinsames Grab blieb unentdeckt.

 

ZURÜCK