Schweigen ist Gold

 

Verdammt, dachte Larry. Verdammt, verdammt, verdammt... Wie konnte das nur passieren? Wie konnte er in diese Lage geraten? Was hatte ihn dazu getrieben, bei diesem Wahnsinn mit zu machen? Das war Selbstmord. Oder sollte man... Selbstverstümmlung sagen? Schließlich brachten er und seine... Freunde, sich nicht gegenseitig um. Nein, sie schnitten sich nur so zum Spaß die Zungen raus und wer am Ende seine noch im Mund hatte, hatte gewonnen. Kinder, macht das ja nicht zu Hause nach.

Larry fuhr sich mit den Händen durch seine roten, lockigen Haare und fluchte leise, um sich dann beide Hände vor den Mund zu halten und zu lauschen. Nicht reden. Er durfte nicht reden!!! Das wäre sein Todesurteil gewesen. Oder das, seiner Zunge.

Larry ließ die Hände sinken. Er wischte den Schweiß an seiner schwarzen Stoffhose ab, schlang die Arme um die angezogenen Knie und wartete.

Wie bist du da nur rein geraten, dachte er. Wie nur?

Er hatte das Haus schnell gefunden. Eine Villa mit riesigem Vorgarten, elektrischem Tor, einem 3 Meter hohen Zaun... Eine Villa mit 10 Schlafzimmern, einem Turm, einem Swimmingpool im Keller und einem hinterm Haus und weiß der Geier, was dieses Gebäude noch für Geheimnisse barg. Es war Larry egal. Jetzt jedenfalls.

Als er das Haus gefunden hatte, war ihm die Kinnlade runter geklappt und er hatte leise das „Vater unser“ gebetet, vor Ehrfurcht.

Wie hatte es sein alter Schulkamerad Henry bloß so weit geschafft? Sie waren sich seit fünf Jahren nicht mehr begegnet und Henry lud ihn und vier weitere ehemalige Schulkameraden, zu sich nach Hause ein. Der alten Zeiten willen. Da waren Ernest, der Computerfreak, welcher seit drei Jahren eine eigene Firma leitete und mit Cathrine verheiratet war. Cat, so nannte sie ihre Freunde, war damals das begehrteste Mädchen der Schule gewesen und es hatte nie einer verstanden, warum eine wie sie, die jeden haben konnte, sich mit einem Langweiler wie Ernest abgab.

Wo die Liebe hin fällt, dachte Larry. Er hörte ein Geräusch. Draußen, auf dem Flur. Jemand näherte sich der Tür, die Larry nur erkennen konnte, weil unter ihr ein schmaler Lichtstreifen her lief. In dem Zimmer, in dem er hinter einem Sofa hockte, brannte kein Licht. Es war so dunkel, daß der Mann seine Hand vor Augen nicht sehen konnte.

Nicht... reden... Keinen Mucks... Gott, ich schwitze... Hab ich bei mir zu Hause das Licht aus gemacht? Die Wohnungstür abgeschlossen... Larry schaute ins Leere. Verrückt, dachte er, worüber man sich in so einer Situation Gedanken macht. Hab ich nun die Wohnungstür abgeschlossen, oder nicht?

Das Geräusch riß ihn aus den Gedanken. Jemand hatte den Raum betreten. Larry traute sich nicht, über das Sofa hinweg zu schauen. Das herein fallende Licht hätte ihn nur getroffen und wer immer da in der Tür stand und atmete, als wäre er dreimal ums Haus gelaufen, hätte ihn gesehen. So blieben sie sich verborgen. Und Larry sah nicht, daß der Neuankömmling ein großer Messer in der rechten Hand hielt. Blut tropfte von der klinge auf den Boden. Im Hosenbund steckte eine Kneifzange, welche ebenfalls mit Blut beschmiert war. Es klebte an den Händen des Mannes, in seinem Gesicht, in seinem Haar, auf seinem halb zerrissenem Hemd. Langsam hob der Mann seine freie Hand und klopfte dreimal gegen das Holz der Zimmertür.

Larry kniff unwillkürlich die Augen zu und preßte die Hände vor den Mund.

Nicht sprechen... nicht schreien!!!

Die Tür wurde geschlossenen. Erst als Larry die Schritte auf dem Flur hörte, wie sie sich entfernten, atmete er auf. Wer mochte das gewesen sein?

Ernest? Cat? Henry?... 

Daniel? Larry konnte nicht fassen, daß auch er bei diesem Wahnsinn mit machte. Ein Grundschullehrer. Als er selbst noch ein Schüler gewesen war, hatte er die besten Noten gehabt und reiche Eltern. Daß er sich dazu treiben ließ, mit zu machen...

Es sind die Drogen... Verdammt, wir hätten nie damit anfangen dürfen. Larry erinnerte sich daran, wie sie zu sechst an dem Tisch gesessen hatten, Henrys Kochkünste lobten und ihn bewunderten, daß er das ganze Haus alleine sauber hielt, ohne Personal. Sie alle waren Junkies, hatten in ihrer Jugend zusammen den ersten Joint geraucht und waren bald zu Koks übergegangen. Der Kick war ihnen bald nicht mehr groß genug. LSD...

Larry spürte, wie sein Magen rebellierte. Die verdammten Drogen hatten bei ihm nicht lange gewirkt. Er war mit dem Kopf im Dunkeln irgendwo gegen gestoßen und hatte das Bewußtsein verloren. Als der Mann wieder aufwachte, war er einigermaßen klar im Kopf und das erste, was er dachte war:

Nicht schreien!!!

Er stand vorsichtig auf. Seine Knie schmerzten, da er sie so lange angezogen hatte. Larry ging lautlos zur Tür. In diesem Zimmer war sein Verfolger... einer seiner Verfolger nun gewesen und vielleicht würde er zurück kommen, um es sich genauer an zu gucken. Bei Licht. Dann würde dieser jemand auch hinter das Sofa gucken. Falls es Sofa war. Im Dunkeln hatte Larry es jedenfalls für eines gehalten. Er erreichte die Tür, preßte ein Ohr ans Holz und horchte. Er konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören, sein Tinitus piepte in einer Ruhr und vielleicht waren da tatsächlich Holzwürmer in der Tür... Aber der Flur schien menschenleer.

Sein Hand legte sich über die kalte Klinke, drücke sie runter und zog die Tür langsam auf. Das Licht im Flur blendete ihn, brannte in seinen Augen. Er schaute vorsichtig in den Gang und sah... niemanden. Larry schloß die Tür lautlos hinter sich und schlich auf die Treppen zu.

Als sie die Drogen genommen hatten, wurde ihnen trotzdem langweilig. Dann schlug Henry etwas vor. Er stand auf, erhob sein leeres Glas und versuchte daraus zu trinken. Er erklärte kurz und knapp die Spielregeln. Keiner durfte etwas sagen, ansonsten würde man ihm die Zunge heraus schneiden. Und die anderen mußten ihr Opfer dazu zwingen, zu sprechen. Mit allen Mitteln.

Jeder gegen jeden. Wer als letzter seine Zunge im Mund hatte, hatte gewonnen. Larry mußte an den Film „Hannbibal“ denken, wo Dr. Lecter einem Mann Drogen gab und ihm dann sagte, er solle sich das Gesicht abschneiden und es seinem Hunden zum Fraß vor werfen. Er hatte es getan.

Verdammte Drogen!!!! Larry hätte es fast laut geschrien, preßte aber in letzter Sekunde die Lippen zusammen und schaute über die Schulter. Henry verließ gerade ein Zimmer und schloß die Tür. Er hielt noch immer das Messer in der Hand und schaute langsam, mit einem diabolischem Grinsen, zu Larry. Der öffnete den Mund, ein Stöhnen drang über seine Lippen und fast hätte er auch geschrien, als er das verzerrte, mit Blut beschmierte Gesicht seines Freundes sah. Sogar auf seinen Zähnen war Blut. Es färbte den Speichel, der dem Mann über das Kinn lief, rosa.

Larrys Magen rebellierte. Er wich zurück. Henry kam auf ihn zu, fuchtelte mit dem Messer in der Luft herum und grinste.

Bleib weg... Hau ab... Larry hätte es fast geschrien. Er wirbelte herum und rannte zur Treppe. Als er die Stufen runter rannte, zuckten stechende, brennende Schmerzen durch seine Füße und ließen ihn auf schreien. Er konnte nicht anders. Der Schock und die Schmerzen waren zu groß. Larry fiel der Länge nach hin, rollte die letzten paar Stufen runter und spürte über all Stiche und Kratzer. Als er wimmernd vor der Treppe lag, schaute der Mann zu den Stufen. Henry hatte auf ihnen Reißzwecken verteilt. Sie hatte sich in Larrys Fleisch gebohrt. In seine Füße, seine Arme und Beine. Sie waren überall. Und aus jeder kleinen Wunde quoll Blut. Wenn auch nicht viel.

Henry mußte gewußt haben, daß Larry sich die Schuhe ausgezogen hatte, um sich leise bewegen zu können. Seine weißen Socken färbten sich rot, durch das Blut, das sie auf sogen.

Auf der obersten Stufe, die fast frei von Reißzwecken war, stand Henry und grinste. Mit den Lippen formte er stumm einen Satz: „Du hast geredet...“

Larry schüttelte den Kopf. Er wiederholte diese Bewegung, wimmerte und machte sich daran, die Reißzwecken wenigstens aus seinen Fußsohlen zu ziehen, so schnell er konnte. Larry ging die Stufen herab. Er ließ sich Zeit dabei, denn so schnell würde Larry ihm schon nicht weg laufen. Nicht in seinem Zustand. Und wenn doch... dann würde er einfach der Blutspur folgen.

Von irgendwoher ertönte ein Schrei.

Larry erschrak, spürte eine Gänsehaut. Klar, Henry war nicht der einzige Jäger, aber dieser Schrei... Er stammte von Daniel. Was mochte ihm zu gestoßen sein?

Was wohl, du Idiot? Larry riß die letzte Reißzwecke aus seinem linken Fuß. Irgendwer hat ihn sich geholt. Vielleicht hat Henry auch noch mehr Fallen gelegt und Daniel ist in eine getappt.

Der Mann mit den roten Locken stand auf und tastete sein Gesicht ab. Keine Reißzwecken und seine Brille mit dem dicken schwarzen Rahmen und den dicken Gläsern war heil geblieben.

Wenn das so ist, dachte er, DANN LAUF, VERDAMMT!

Er rannte quer durch den Raum, auf die Tür zu, drohte auf seinem Blut aus zu rutschen und biß die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerzen zu schreien. Jeder Schritt war die Hölle.

Larry durch querte die Eingangshalle und stolperte in den Aufenthaltsraum, wo es ein Sofa, einen Kamin und zwei Sessel gab. Das große Fenster war vergittert. Draußen fuhr ein Wagen an dem Tor vorbei. Da draußen war die Welt noch normal. Die Menschen lebten ihr Leben und wußten nicht, was für ein Wahnsinn sich hier abspielte.

Larry schaute über die Schulter und sah Henry, der die Eingangshalle mit ruhigen Schritten durch querte.

Wo war Daniel? Wo waren die anderen?

Wo war Ben? Verdammt, den hatte Larry völlig vergessen. Er war der Klassenclown gewesen und der wohl beliebteste Junge bei den männlichen Schulgängern. Die Mädchen hatten nicht viel für ihn übrig, es gab ein paar Anwärterinnen, aber das änderte sich, als Ben sich als Homosexueller outete. Das änderte nichts an seiner Beliebtheit. Er war und blieb ein echter Kumpel.

Bis zu diesem Abend.

Larry stolperte über etwas. Etwas weiches. Er fiel bäuchlings zu Boden und hätte fast geschrien, als sich manche Reißzwecke bei dem Aufprall, tiefer in sein Fleisch bohrte.

Was hatte ihn da zu Fall gebracht? Der Mann schaute zu seinen Füßen, die noch auf dem Gegenstand lagen. Larry kroch erschrocken vorwärts. Von wegen Gegenstand. Was da lag, war Ben. Man erkannte ihn an seinen schulterlangen, dunklen Haaren, in denen nun sein Blut klebte. Sein Kopf lag in einer Blutlache.

„Gott...“ hauchte Larry. „Oh, mein Gott...“ Es war ihm egal, ob Henry ihn hörte. Das Ben tot war... daß man ihm die Kehle durch geschnitten hatte, war einfach zu schrecklich.

Larry schaute zu Henry, der in der Tür des Aufenthaltsraums stand.

„Wieso hast du ihn getötet?“ Larry schrie auf,. „Wieso? Davon war nie die Rede. Allein dieser Schwachsinn mit den Zungen... Verdammt, komm zu dir.“

Henry zeigte keine Reue. Er grinste weiter hin. Daß er der Mörder war, stand außer Frage. Als Larry die Treppe hoch gerannt war, hatte er die beiden kurz zusammen gesehen.

Der Mann mit den roten Locken sprang auf und rannte weiter. Er wollte nicht sterben. Nicht hier. Nicht so. Er wollte vorher nicht verstümmelt werden und leiden. In der Küche stieß er mit jemanden zusammen. Larry stieß den Körper von sich und rutschte auf den Fliesen aus. Er fiel zu Boden, schaute den Neuankömmling an und sah Cat, die sich die Hände vor den Mund hielt. Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Tränen flossen über ihre Wangen, über ihre Finger. Ihr schwarzes Kleid war an manchen Stellen zerrissen. Ihre blonden, langen Haare, zerzaust. Henry riß ihren Kopf an ihren Haaren in den Nacken und rammte ihr die Messerklinge bis zum Griff in den Hals. Eine Fontäne aus Blut klatschte auf die Fliesen. Die Hände fielen leblos zu Boden. Der weit offen stehende Mund schwappte über, mit dem roten Lebenssaft. Die verdrehten Augen verblaßten. Cat war tot. Wie Ben... Und Daniel?  Ernest?

Larry kroch rücklings über die Fliesen, weg von Henry, der über Cats Leiche hinweg stieg und seinem Freund folgte.

Jetzt ist es aus, dachte Larry. Er hat mich. Ich bin der nächste. Er sah das Messer, die Zange, den wahnsinnigen Gesichtsausdruck in Henrys Gesicht. Jetzt konnte ihn nur noch ein Wunder retten.

Oder Ernest, der wild schreiend in die Küche stürzte und Henry zu Boden riß. „Du hast sie umgebracht!“ schrie er. „Du hast Cathrine umgebracht, du verdammter Hurensohn!“

Larry rollte sich zur Seite und wollte Ernest helfen, doch es war zu spät. Henry stieß ihn von sich, packte die Zange und rammte sie in Ernest weit offen stehenden Mund. Er riß die Zunge hervor. Es folgte ein schneller Hieb mit dem Messer, Blut spritzte und Ernest schrie gellend auf. Henry hatte seine Knie auf den Händen seines Freundes und holte mit dem Messer zum Schlag aus. Larry machte der Blutverlust zu schaffen. Er spürte, wie ihm schwindelig wurde. Verschwommen sah der Mann noch, wie Henry das Messer in die Brust des Mannes unter ihm rammte.

Larry rannte aus der Küche raus, zurück in den Aufenthaltsraum und wieder in die Eingangshalle, um die Klinke der Haustür runter zu drücken. Die Tür war verschlossen.

„Verdammt!“ schrie der Mann und rannte ins Wohnzimmer. Dort lag Daniel am Boden, preßte sich die Hände vor seinen blutenden Mund und wimmerte. Das mußte Ernests Werk gewesen sein. Der Anblick seiner toten Frau hatte ihn wieder zur Besinnung gebracht.

Larry schaute sich um und sah auf dem Tisch neben der Couch etwas funkeln. Das Licht fiel auf den Gegenstand und Larry ging drauf zu. Es war eine Nadel. Klar, wer ledig ohne Personal in so einem Haus wohnte, mußte nicht nur kochen und saugen... sondern auch Socken stopfen und all solche Sachen. Der schwarze Garn neben der Nadel brachte Larry auf eine Idee. Es war Wahnsinn, aber...

Was machte das schon?

 

Henry betrat den Raum und rief: „Larry, ich hab gewonnen. Das wissen wir beide. Ich rede jetzt, weil es außer uns beiden, nie einer erfahren wird und du eh gleich tot sein wirst. Es gibt nur diesen einen Ausgang aus dem Wohnzimmer. Du mußt an mir vorbei. Aber ich bin kein Unmensch.“ Er lachte. „Wenn du es an mir vorbei schaffst, ohne zu reden, lasse ich die gehen.“ Sein Blick fiel auf Daniel, der noch immer wimmerte. „Und ihn auch. Die Drogen haben mich dazu gebracht, Cat, Ernest und Ben zu töten... dieses Spiel zu beginnen. Jetzt ist es zu spät. Ich kann nicht mehr zurück. Tut mir leid, aber ich muß euch beide töten.“ Er zögerte, schaute sich um und als er Larry nicht entdecken konnte, fügte er hinzu: „Jetzt fragst du dich, wieso du es dann versuchen solltest, an mir vorbei zu kommen. Ganz einfach. Du mußt mich töten. Nur einer von uns beiden wird hier lebend raus kommen und dieser jemand entscheidet über Daniels Schicksal. Was sagst du?“ Er lachte wieder.

Dann schnellte Larry hervor. Woher er kam, konnte Henry nicht erkennen. Er war da und er war verdammt schnell. Der Mann stieß Henry zu Boden, daß dieser das Messer verlor und auf schrie. Er griff nach Larrys Hodensack und drückte zu. Ein erstickter Schrei ertönte und als Henry in das Gesicht seines Gegners sah, bevor dieser ihm ein Sofakissen auf’s Gesicht preßte, sah er schwarzen Garn, der sich unregelmäßig über die Lippen seines Gegners spannte, um über und unter den Lippen in feinen Einstichen zu verschwinden.

Er hat sich selber den Mund zu genäht, dachte Henry, bevor Larry sich auf seine Hände kniete und das Kissen erst wieder von seinem Gesicht nahm, als er sich nicht mehr bewegte.

Larry fiel auf die Seite und versuchte zu lachen, was ihm furchtbare Schmerzen bereitete. Er hatte gewonnen. Er hatte tatsächlich gewonnen. Sein Blick fiel auf Daniel, der zwar noch lebte, aber keine Zunge mehr hatte. Larrys letzter Gedanke war, bevor er das Bewußtsein verlor: Und wer ruft jetzt Hilfe?

 

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