In der schwarzen Burg der Erinnerung

 

 

Mit aller Kraft stemmte sich Ilian gegen die schwere Tür. Er vermochte sie kaum zu öffnen. Nur mit allergrößter Mühe war er dazu in der Lage. Ächzend gab sie den Blick auf einen weiteren Korridor frei. Auch hier waren die Fackeln erloschen. Niemand kam, um sie neu zu entzünden. Keiner wies ihm den Weg. Am Ende des Tunnels gab es kein Licht.

Dunkel ragten verstummte Fackelreste in die staubige Luft. Durch blinde Fenster sickerte gerade soviel Licht herein, dass Ilian den schwarzen Steinboden zu seinen Füßen erkennen konnte. Resigniert betrat er den Korridor, lief weiter, ging hinein, schon jetzt fürchtend, dass ihn auch die nächste Tür dem Entrinnen nicht näherbrachte. 

Von weit her hörte er die Trommeln schlagen, jenes gleichmäßige Grollen, das nie näher kam, sich aber auch nicht weiter entfernte. Zelebrierten sie noch immer das tödlich Spiel? Wie oft hatte er daran teilgenommen! Das Lied zu dem sie tanzten, war eine grausame Weise. Er kannte Melodie und Text, jede Silbe davon. Mit einem Mal kam es ihm so vor, als sei es nur für ihn komponiert. Note für Note, Wort für Wort. Es gab kein Entkommen. 

Vorsichtig tastete Ilian nach dem Schwert an seiner Seite. Es hatte ihm kein Glück gebracht. Auch jetzt gab ihm die Waffe keine Sicherheit. Sie konnte ihm nicht helfen, ebenso wenig wie die Krieger seines Vaters. Verlassen hatten sie ihn schon seit geraumer Zeit. Kein Verbündeter gab ihm Zuversicht. Hier war er allein.

Ilians Hand glitt ab vom Schwert. Die finstere Burg hatte ihn verschlungen. Das Tor war hinter ihm zugefallen; die Festung hatte ihn gefressen, ohne dass er sich dessen so recht bewusst gewesen war.

Ermattet blieb er stehen, wollte zum Fenster hinausschauen, aber die gnadenlose Scheibe gewährte keinen Ausblick. Er durfte das unerbittliche Meer weit drunten nicht sehen, keine Hoffnung schöpfen im Angesicht hellen Sonnenlichts. Die Blindheit des Fensters schlug auch ihn.

Entmutig ging er weiter. Nur am Rande noch nahm er die Schmerzen wahr. Das Geschrei war verstummt. Oder war er es, der endlich schwieg?

Wie zuvor, taten sich zu seiner Linken immer wieder unerwartet Säle auf. Leere Rüstungen glotzten dann verlockend aus der Tiefe dunkler Räume zu ihm her, flüsterten von der Sicherheit des Eisens; wenn er jedoch hinging, um sie zu betrachten, fielen sie vor seinen Augen in Stücke. Übrig blieben nur armselige Häufchen verrosteter Ritterlichkeit. Verbogener Harnisch, zerschlagener Stolz.

Nichts blieb, nichts hielt seinem prüfenden Blick stand. War er nun in der Lage zu verstehen? Sah er jetzt mit offenen Augen, nachdem seine sterbenden Augen für die Realität blind geworden waren?

 

Unvermittelt traf er auf seine Mutter. Sie weinte, wie immer, wenn er im Begriff war, sich von ihr zu verabschieden. Sie nahm seine Hände, strich über sein Haar und wünschte ihm Glück, als sei dies ein Abschied wie jeder andere. Sie sah die Verletzungen nicht, nahm den Wahnsinn nicht wahr, hatte nicht die Schreie in der Nacht gehört, wenn er nach ihr rief und sie nicht kam. Das Gebot des Vaters war stärker. Helden brauchten nicht den Trost der Mutter. Wortlos ließ Ilian sie zurück. Dieser Abschied war der letzte. Er wusste, dass er sie nie wiedersehen würde, doch er trauerte nicht. Er verlor nicht viel.

Über den Zinnen der Festung heulte Sturm. Geister sangen Hymnen auf Ilians Kommen, als hätten sie schon lange auf ihn gewartet. Arien der Verrücktheit, die der Wind gebar. Dachschindeln klapperten wie lockere Zähne, als fürchte sich selbst die Burg.

Geschwächt taumelte Ilian vorwärts. Ein kleiner Junge sah mit großen Augen zu ihm auf. Um den Hals trug er die erdolchte Kindheit. Von seinen Fingern troff Blut. Ilian streckte die Hände nach ihm aus, wollte ihn greifen, doch das Kind entzog sich ihm.

Wie ein bleiches Gespenst löste sich die Figur des Vaters aus den Schatten der Wand. Dieser Mann hatte ihm mit Krieg die Kindheit geraubt, die jener Junge gemartert an silberner Kette zur Schau trug. Ilian konnte nicht mehr vergeben. Er schlug dem Vater ins Gesicht und ging weiter.

Der schwarze Ritter wartete wieder auf ihn. Auch diesmal besiegte ihn Ilian nicht.  Der Ritt, der Kampf, der Sturz. Das Geräusch berstender Knochen füllte seinen Kopf, nahm ihm noch einmal den Atem, aber der Wahn des Schmerzes blieb aus, für dieses Mal. Das Siechtum begann nicht erneut, nicht die Folter des Leids. Ilian entkam auf beiden Beinen. Ruhmlos rannte er davon. Das Gelächter des schwarzen Ritters folgte ihm ein ganzes Stück. Auf den Zinnen schwiegen Dämonen und Geister.

 

Vom Alter dunkel gefärbt grüßten aus dem nächsten Saal schwere Gemälde lang verblichener Ahnen. Obwohl er sie nicht sehen wollte, betrat Ilian den Raum.  Ein letztes Zugeständnis an jene übermächtigen Toten, die durch verklärtes Sterben sein Leben beherrscht hatten.

Tatsächlich verließ der Großvater das Bild. Er stieg heraus und schwang sein Schwert. Die Last der Tradition wog schwer. Ilian war zu schwach gewesen, ihr zu widerstehen. Er hatte hoch bezahlt für diese Schwäche. Die Lanzenspitze trug keine Krone. Spitz war sie und scharf. Der Großvater sank getroffen zur Erde. Entsetzt wurde Ilian Zeuge seines Todes.  Auch er niedergerungen? Die Heldenlieder gelogen?

Rasch verließ er den Saal. Er achtete nicht mehr auf die Gemälde. Endlich hatte die Vergangenheit die Gewalt über ihn verloren. Auch die Erinnerung konnte ihn nicht halten. Nun zog es ihn davon, immer weiter weg, fort von Schmerz und Verstand. 

Dumpf ritt das Meer gegen den Klippenthron der Festung. Kalt wurde die Luft und leer der weitere Weg.

Ein paar dünne Gespinste begegneten Ilian noch, aber er erkannte sie nicht mehr. Hilflos streckten sie die Hände nach ihm aus, versuchten ihn zu fassen, am Gehen zu hindern, doch er entzog sich ihrem Zugriff.

Die schwarze Burg wurde stumm. Vor blinden Fenstern starb endgültig das Licht. Die Trommeln des Ozeans verloren an Intensität, die schwarzen Steine büßten ihre Farbe ein. Nur schemenhaft nahm Ilian wahr, dass der Weg jetzt nach unten führte. Dem dumpfen Dröhnen entgegen und der Finsternis.

Ein letztes Mal glaubte er den Jungen zu sehen. Er lag in einem weißen Bett und schlief. Kissen und Laken waren rein und makellos, das Blut fortgewaschen. Friedlich sah das junge Gesicht aus, endlich ruhig. Wie eine Schlange lag die ermordete Kindheit um seinen Hals. Tod oder Wiedergeburt?

Eine unvermutete Tür tat sich auf. Endlich kam das Licht. Gleißend hell war es und warm. Ilian warf das Schwert in den schwarzen Korridor hinter sich und schritt über die Schwelle. Stille umarmte ihn und grenzenlose Weite.

 

 

Als Ilian starb, war er sechzehn Jahre alt. Vom Vater schon im Kindesalter ins Rittertum gezwungen, vom Vorbild des Großvaters in den Wahnsinn getrieben, hatte er Kampf und Blut ertragen, bis seine Seele darin ertrank und seine Knochen unter der Last der schweren Rüstung zusammenbrachen.

Die Ärzte seiner Zeit waren nicht in der Lage, den einfachen Beinbruch zu behandeln, den er sich bei einem Turnier zugezogen hatte. Ilian verließ die Welt, nachdem sein geschwächter Körper zwei Wochen gegen den Wundbrand des schlecht amputierten Beines gekämpft hatte.

 

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