ROBERT UND GEORGE

 

  Die junge Frau trat hinaus ins Halbdunkel der Eingangs-  treppe und verriegelte die Spielhallentür. Endlich Feier-    abend! Hinter ihr lag ein sterbenslangweiliger Tag. Sie verabscheute den Job, zuviel Gesindel trieb sich in den Automatenräumen herum. Noch drei Monate, dann zog sie mit Tsikos nach Stuttgart. Ein neues Leben würde beginnen, wenn das griechische Feinkostgeschäft, das sie eröffnen wollten, erst richtig lief. Geliebter Tsikos, er holte sie hier heraus! Ihr Faltenrock wippte, als sie die Stufen hinuntersprang.    

  „Siehst du die da?“ flüsterte George. „Aufgetakelt wie eine Hafendirne.“

  Robert, der sich hinter einer Telefonzelle verborgen hielt, während die Frau vorüberstöckelte, schüttelte den Kopf. „Ich finde, sie sieht hübsch aus.“ Er blähte seine Nasenflügel und sog die kühle Nachtluft tief in seine Lungen. „Und sie duftet so gut nach Kokosparfum!“

  „Wir sollten ihr eine Lektion erteilen. Los, komm mit.“

  „Nein! Bitte laß sie gehen. Bitte!“ Aber Robert konnte Georges bestimmendem Tonfall nicht viel entgegenhalten. Er setzte sich in Bewegung und folgte dem weithin hörbaren Klick Klack spitzer Damenschuhabsätze auf dem Asphalt.

  George fand ein diebisches Vergnügen daran, spätabends durch die Stadt zu streifen. Robert verursachten die nächtlichen Ausflüge regelmäßig Alpträume, in denen er sich wieder in einen Halbwüchsigen verwandelte. Nackte Frauenarme griffen aus der Finsternis nach ihm wie giftige, weiße Schlangen, die auf seinem Körper entlangkrochen. Signalrot lackierte Fingernägel bohrten sich in sein Gesäß, während er vom Geruch essigsaurer Tonerde, den Ausdünstungen des welken Fleisches, das ihn umgab, benebelt wurde. Meist erwachte er, ohne zu wissen, wo er sich befand. Er erschrak bei jedem Blätterrascheln und fürchtete die bizarren Schatten, die von Autoscheinwerfern gegen die Häuserfronten geworfen wurden. Wie tröstlich erschienen ihm dagegen die hellerleuchteten Schaufenster mit ihren bunten Auslagen, vor denen ab und zu späte Passanten stehenblieben. Manchmal, wenn George es erlaubte, gesellte sich Robert zu den Unbekannten und wechselte ein paar Worte mit ihnen. In diesen seltenen Momenten war er glücklich und die unvorstellbaren Qualen seiner Jugend gerieten für kurze Zeit in Vergessenheit.

  Nur noch wenige Schritte, dann war die Frau eingeholt. Zwei Betrunkene torkelten auf dem Bürgersteig der anderen Straßenseite entlang. „Guten Abend“, sagte George mit kehliger Stimme, als sie verschwunden waren.

  Die Frau fuhr sichtlich erschrocken herum, doch im nächsten Moment entspannten sich ihre Gesichtszüge. „Ach, Sie sind es. Hab’ Sie gar nicht bemerkt. Guten Abend.“

  „Tu es!“ zischte George.

  „Sie ist fast noch ein Kind“, protestierte Robert schwach.

  „Feige Memme! Dann mache ich es selbst!“ Die Augen der Frau weiteten sich vor Entsetzten, als er sie packte...

*

  „Das verdammte Schwein!“ Kriminalkommissarin Walpurgis hatte nur einen Apfel gefrühstückt, doch selbst er drohte beim Anblick der Leiche wieder hochzukommen.

  „Die Frau wurde erwürgt“, sagte Kriminaloberkommissar Hahne. Er faßte mit Daumen und kleinem Finger der linken Hand in seinen Mund und zog einen Kaugummi in die Länge, um ihn zusammenzurollen und die kleine Kugel wegzuschnipsen. „Sie war bereits tot, als der Täter sie verstümmelte.“

  „Genau wie die in der vergangenen Woche... Wieder der Zungenmörder?“ fragte Susanne Walpurgis.

  Ihr Vorgesetzter nickte.

  „Hat man die Tote bereits identifiziert?“

  „Der Hausmeister, der sie entdeckte, fand im Hinterhof ihre Handtasche. Geldbörse, Schlüssel, Schminkzeug, alles ist  da, nur kein Ausweis. Den muß der Mörder mitgenommen haben.“


  Ein Serienkiller - in einer beschaulichen Kleinstadt wie Bad Weilheim! Als Susanne Walpurgis am Ende dieses Tages in ihr Bett sank, kam sie lange nicht zur Ruhe. Wie immer, wenn sie nicht einschlafen konnte, griff sie in die Mähne ihres alten Stofflöwen, der mit ihr das Bett teilte, seit sie denken konnte. Wieder und wieder zählte sie die vierundsechzig Zotteln. Es half nichts. Sobald sie ihre Augen schloß, erschien ihr das Bild der Toten. Zwanzig Jahre alt, wie sich herausgestellt hatte. Spielhallenaufsicht, wohnte noch bei den Eltern, ein fröhliches Mädchen mit ebenmäßigen Gesichtszügen. Daran erinnerte nur noch ein Foto, das die Mutter der Getöteten von Weinkrämpfen geschüttelt aus dem Familienalbum geholt und Susanne in die Hand gedrückt hatte.

  Die sterbliche Hülle des Opfers war zur Autopsie ins Gerichtsmedizinische Institut überführt worden. Die Zunge fehlte, der Wahnsinnige hatte sie herausgerissen und mit schweren Stiefeln auf den Schädel des Mädchens eingetreten, bis nur eine breiige Masse übriggeblieben war. Ein schwacher Trost, aber wenigstens hatte es davon nichts mehr gespürt und war, wie die Untersuchung bestätigen würde, nicht mißbraucht worden. Wie beim vorangegangenen Verbrechen hatte man die Leiche vollständig bekleidet aufgefunden.

  Niemand konnte ahnen, ob, wann oder wo der Zungenmörder wieder zuschlug. Die Zeit drängte, es durfte nicht noch ein Menschenleben gefordert werden. Zudem saßen Hahne der Bürgermeister und mit ihm der Kurdirektor im Nacken. Sobald die Presse Wind von der Sache bekam, mußte schnell ein Verdächtiger präsentiert werden. Das Bild des gemütlichen Kurortes, der fernab vom Streß der Großstädte eine Oase der Ruhe bot, geriet leicht ins Wanken, wenn auf den Titelseiten in fetten Lettern ‘Bestie von Bad Weilheim noch auf freiem Fuß’ und ‘Wer wird das nächste Opfer des Zungenmörders?’ prangte.   

  „Übereinstimmungen!“ Den ganzen Nachmittag lang war Hahne im Büro auf und abgegangen, hatte sich einen Kaugummi nach dem anderen in den Mund geschoben und den Papierkorb mit


klebrigen Kugeln gefüllt. „Wir müssen etwas finden, das die Frauen gemeinsam hatten, eine Verbindung herstellen.“ Vergebens. Außer der Tatsache, daß beide nach Anbruch der Dunkelheit getötet worden waren, paßte nichts zusammen. Zwischen ihnen lagen mehr als fünfundzwanzig Jahre. Das erste Opfer maß einsachtzig, trug das aschblonde Haar kurzgeschnitten und kleidete sich elegant. Dagegen war das Mädchen auffallend klein und hatte das schulterlange, schwarzgefärbte Haar zu einem Turm toupiert. Seiner Kleidung sah man an, daß es nicht den wohlhabendsten Verhältnissen entstammte. Schlug der Killer willkürlich zu, tötete er, was ihm vor die Stiefel geriet? So einfach konnte es nicht sein!

  Susanne seufzte. Je mehr sie sich in die Opfer hineinversetzte, desto stärker fühlte sie ihre Todesangst, die sie ausgestanden haben mußten, als der Mörder sie vom Gehweg zog und ihnen die Kehle zudrückte. Als Tatwerkzeug hatte er seine bloßen Hände benutzt und dabei wunderbare Fingerabdrücke hinterlassen. Leider paßten sie nicht zu denen, die der Computer ausspuckte. Ein unbeschriebenes Blatt. Ein Durchreisender, Kurgast oder gar ein Einheimischer?

  Da durchzuckte ein Geistesblitz Susannes Kopf. Sie krabbelte aus dem Bett und betrachtete durchs Fenster die schlafende Stadt - noch immer hielt sie den Löwen im Arm. Beide Opfer waren regelmäßig spätabends unterwegs gewesen. Kannten sie ihren Mörder, hatten sie ihn auf der Straße kennengelernt? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden...

  „Auf keinen Fall, das erlaube ich nicht!“ Kriminaloberkommissar Hahne reagierte am nächsten Morgen heftiger als erwartet auf Susannes Vorschlag.

  „Chef, bitte! Es handelt sich um ein überschaubares Risiko. Der Kerl hat wahrscheinlich nicht mal eine Waffe!“

  Hahne schüttelte den Kopf. „Sie als Lockvogel, und ich trage die Verantwortung, falls Ihnen etwas passiert? Nein!“

  „Wenn wir nichts unternehmen, werden wir bald die nächste Leiche finden!“ Sie sprach mit erregter Stimme.


  „Schluß jetzt! Ich will nichts mehr davon hören!“ Damit war die Diskussion beendet.

  Eine Spur lauter als gewöhnlich zog Susanne die Tür von Hahnes Büro hinter sich ins Schloß. Sollte er sagen, was er wollte, er konnte ihr nicht verbieten, nach Schichtende einen ausgedehnten Spaziergang durch die Stadt zu unternehmen.

  Kaum jemand war unterwegs an diesem Abend, und die wenigen, die sich auf die Straße gewagt hatten, hasteten schnell vorüber. Lag es am feuchten Nieselregen, der nach kurzer Zeit Susannes Jeansjacke durchdrang, oder ging die Angst um in Bad Weilheim? Nach zwei Stunden wünschte sie sich nichts sehnlicher, als ein dampfend heißes Bad mit Melissenöl. Entnervt und tropfnaß gab sie auf und machte sich auf den Heimweg. Ihr war nichts Verdächtiges aufgefallen, nur ein einsamer Penner, der sich unter das Vordach eines verlassen daliegenden Straßencafés verkrochen hatte und einer Blockflöte schiefe Töne entlockte. Er war sicher nicht der Zungenmörder. Zu klein, zu schmächtig. Nicht einmal Schuhe trug er, obwohl sich der Sommer bereits seinem Ende neigte.

  Der zweite Abend verlief ähnlich erfolglos, ebenso die folgenden. Obwohl die Witterung sich allmählich besserte, fand Susanne an jedem Abend das gleiche, vertraute Bild vor. Frauen, die sich ängstlich nach allen Seiten umblickten, während sie raschen Schrittes an ihr vorübergingen. Männer, die mit vorgewölbter Beschützerbrust neben ihren Kurschatten einhermarschierten. Und natürlich der Penner, dem Susanne immer wieder an verschiedenen Plätzen begegnete. Einmal versuchte sie, ihn zu befragen, vielleicht hatte er etwas Außergewöhnliches bemerkt. Doch entweder war er taub oder zu betrunken oder beides, jedenfalls grinste er sie nur wortlos an. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, der Schichtwechsel stand unmittelbar bevor, dann war es vorerst vorbei mit dem Streifendienst auf eigene Faust.

  „Dieses Weib treibt sich neuerdings jeden Abend in unserem Revier herum!“ George blickte Susanne nach. „Ich hasse sie!“

  „Sie ist doch nett! Laß uns nach Hause gehen, ich bin todmüde!“ Robert gähnte und streckte sich, dann stand er auf und klopfte den Staub von seiner verschlissenen Hose.

  „Noch nicht. Erst muß die Frau muß weg! Hast du ihre Stimme gehört? Der gleiche schrille Ton wie bei den anderen. Ich bekomme Kopfschmerzen davon. Genauso hat deine Tante immer gesprochen, wenn du zu ihr ins Bett steigen mußtest.“ George holte ein Paar Springerstiefel aus einem Rucksack.

  Tränen liefen über Roberts Wangen. „Nicht noch eine! Nicht auch diese Frau! Die Tante ist lange tot, laß sie ruhen!“

  „Wenn es nach dir ginge, wäre selbst die noch am Leben.“

  Kurz bevor sie den Schloßpark erreichte, beschloß Susanne, ihre Mission zu beenden. Es hatte keinen Zweck, so würde sie den Mörder niemals finden. Als sie sich umdrehte, stieß sie unvermittelt mit jemandem zusammen, der ihr aus der Dunkelheit entgegentrat. „Oh, Entschuldigung“, brachte sie erschrocken hervor, dann erkannte sie erleichtert den Penner.

  „Guten Abend“, sagte George.

  Susanne sah auf ihn herunter, sie überragte ihn beinahe um einen halben Kopf. Verwundert bemerkte sie, daß er nun nicht mehr barfüßig war, sondern schwere Stiefel trug. Es blieb ihr keine Zeit, nachzudenken. Der Kerl packte sie mit unerwarteter Kraft und drängte sie zum Eingangstor des Parks. Seine Hände schlossen sich um ihren Hals wie Schraubzwingen, die unerbittlich immer fester gezogen wurden. Vergeblich fingerte Susanne nach ihrer Dienstpistole, die sie unter ihrer Jacke trug. Sie nahm den süßlichen Geruch von Haargel wahr, der sich mit billigem Rasierwasser vermengte. Dies war kein Penner! Ihre Sinne drohten zu schwinden. ,Verloren’, schoß es ihr durch den Kopf.

  Jäh erschlafften die Hände des Mannes, er sackte in sich zusammen und sein Körper fiel schwer auf Susanne, die einen gurgelnden Laut von sich gab und hustete und gierig nach Luft rang. Als sie aufsah, blickte sie in das besorgte, Kaugummi kauende Gesicht von Kriminaloberkommissar Hahne. In
der Hand hielt er eine Taschenlampe, die er als Schlagstock benutzt hatte. „Alles in Ordnung?“ fragte er und half ihr, sich von dem Bewußtlosen zu befreien.

  Susanne rieb den schmerzenden Hals. „Danke! Aber woher wußten Sie...“

  „Es gehört zu meinen Aufgaben, daß ich meine Mitarbeiter genau kenne. Dies wäre sonst auch verdammt ins Auge gegangen! Schaffen wir den Verhafteten in die Notaufnahme, auch wenn ich ihm lieber noch eins überbraten würde.“

  Im Krankenhaus wurde der Mann unter strengste Bewachung gestellt. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, hockte er mit hängendem Kopf und hängenden Schultern da, ein reumütiger Sünder, der die grausigen Taten am liebsten ungeschehen machten wollte. „Ich hätte es verhindern müssen“, flüsterte er immer wieder, „ich hätte es George verbieten müssen!“

  Bereitwillig gab er seine Personalien zu Protokoll. Robert Karcher, zweiunddreißig Jahre alt. Er lebte allein in einem heruntergekommenen, einsam gelegenen Haus am Stadtrand, das er, wie er sagte, von seiner verstorbenen Tante geerbt hatte. Bei einer Durchsuchung des Hauses entdeckten die Kriminalbeamten neben den Ausweisen der beiden Opfer auch deren Zungen, eingelegt in hochprozentigen Alkohol. Sie schmückten ein verstaubtes Bücherregal. Im Keller fanden sie die skelettierte Leiche der Tante.

  Robert Karcher wurde in die geschlossene Abteilung einer Spezialklinik eingeliefert, nachdem feststand, daß nicht er die abscheulichen Morde begangen hatte.

  „Es ist alles deine Schuld“, fluchte George. „Wegen deiner Redseligkeit haben sie uns eingebuchtet. Gut, dass ich weiß, wie wir hier wieder rauskommen. Pass auf! PFLEGER, HILFE! PFLEGER...“

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