Carmine Mirabelli

Ein vielseitiges Medium

 

Als der 22 Jahre alte Angestellte eines Schuhgeschäftes im brasilianischen Sao Paulo im Jahr 1911 fristlos entlassen wurde, weil der Inhaber des Ladens der ständig wie von selbst umherfliegenden Schuhkartons überdrüssig geworden war, ahnte niemand – am allerwenigsten der Angestellte Carmine Mirabelli selbst –, dass dies der Beginn seiner bemerkenswerter Karriere als Medium sein würde. Mirabelli war sogar so sehr von seiner „Andersartigkeit“ überzeugt, dass er sich nach der Entlassung schnurstracks in eine Nervenheilanstalt begab, wo er 19 Tage unter der Beobachtung zweier ungewöhnlich einfühlsamer Ärzte verbrachte.

Diese beiden Ärzte, Dr. Felipe Ache und Dr. Franco da Rocha, bescheinigten ihm schließlich „außergewöhnlich starke paranormale Fähigkeiten“ und berichteten von außergewöhnlichen Vorfällen während des Klinikaufenthaltes von Mirabelli. So war da Rocha Zeuge geworden, wie der junge Mann einen Schädel nur durch Hinschauen auf einem Glas rotieren ließ, also ohne etwas dabei zu berühren. „Als ich den Schädel in die Hand nahm,“ so der Arzt, „spürte ich etwas seltsam Fließendes, so als ob ich eine kugelförmige Flüssigkeit anfasste. Als ich mich darauf konzentrierte, schien eine Art Strahlung den Schädel entlang zu wandern, ähnlich, wie wenn Lichtstrahlen über einen Spiegel huschen.“

Die Ärzte berichteten wiederholt über ihren ungewöhnlichen Patienten und begründeten so dessen einzigartige mediale Karriere.

Carmine Mirabelli wurde 1889 als Sohn eines protestantischen Pastors italienischer Abstammung geboren, hatte jedoch bis zu jenen Vorfällen im Schuhgeschäft eine völlig normale Entwicklung hinter sich gebracht.

Nach seinem Aufenthalt in der Nervenklinik begann der junge Mann Freude daran zu finden, anderen seine Fähigkeiten zu demonstrieren. Auf diese Art entdeckte er, dass sein Repertoire Hellseherei, Telepathie, Präkognition, Levitieren, sichtbares Materialisieren von Toten, Automatisches Schreiben in über 30 Sprachen und sogar das Anfertigen von Zeichnungen und Gemälden in verschiedensten Stilarten umfasste. Außerdem erwies er sich in Trance als talentierter Sänger und Klavierspieler, obgleich er nie eine musikalische Ausbildung genossen hatte. Am bemerkenswertesten jedoch war, dass er über 40 Jahre lang der Mittelpunkt von Poltergeistaktivitäten war. In seiner Nähe bewegten sich Gegenstände vor und hinter geschlossenen Türen, tauchten aus dem Nichts auf, fingen Feuer oder verschwanden. All dies geschah mit solcher Regelmäßigkeit, dass seine Verwandten derlei Vorfälle schließlich als alltäglich hinnahmen.

Es dauerte nicht lange, bis die Demonstration seiner Fähigkeiten erste Kritik erregte, zumal er sich seine Dienste schließlich auch bezahlen ließ. So fanden sich schnell Personen, die sich vorgenommen hatten, Mirabelli als Schwindler zu entlarven.

Einer seiner ärgsten Kritiker war der Spiritist und Historiker Carlos Imbassahy. In seinem 1952 erschienenen Buch O Espiritismo a Luz Dos Fatos (Der Spiritismus im Lichte der Tatsachen) schildert er anschaulich, wie er schließlich zugeben mußte, dass Mirabellis Fähigkeiten zweifellos echt waren. Er schreibt, dass Mirabelli eines Tages uneingeladen in sein Haus kam und ihm sofort die bis ins letzte Detail stimmende Lebensgeschichte eines seiner (Imbassahys) Freunde zu erzählen begann. Diesen Freund hatte Mirabelli jedoch nie kennengelernt. Anschließend brachte ein Diener mehrere Flaschen Wasser ins Zimmer und stellte sie auf einen etwa fünf Meter von Mirabelli entfernten Tisch. Die Männer hielten Mirabellis Hände fest und beobachteten schließlich, wie dennoch kurz darauf eine der Flaschen vor aller Augen in die Höhe schwebte, fünf oder zehn Sekunden lang gegen die anderen schlug und dann wieder an ihren Platz zurückschwebte. Imbassahy, der den jungen Mann liebend gern als Betrüger entlarvt hätte, war ehrlich genug zuzugeben, dass er danach unerschütterlich von dessen Fähigkeiten überzeugt war.

Eurico de Goes, Mirabellis Biograph und Freund, schilderte andere Vorfälle. Bei einer Seance zum Beispiel schwebte das gefesselte Medium im Raum und löste sich dann einfach in Luft auf. Die Handschellen fielen zu Boden und schließlich fand man Mirabelli in einem angrenzenden Zimmer auf dem Boden liegend, während er Studentenlieder sang. Ein anderes Mal befand sich de Goes auf dem Weg zu Mirabelli, als er merkte, daß er seinen Regenschirm vergessen hatte. Doch als er Mirabellis Haus betrat, fiel ihm sein Schirm plötzlich von der Zimmerdecke entgegen. Bei einem anderen Vorfall, den de Goes erwähnt, warteten Mirabelli und einige Freunde auf einen Zug, der sie zu einem etwa 80 km entfernt wohnenden Bekannten bringen sollte. Als Mirabelli urplötzlich verschwunden war, riefen die Freunde bei jenem Bekannten an, der ihnen mitteilte, dass Mirabelli bereits bei ihm war.

Die von de Goes geschilderten Vorfälle waren so bemerkenswert, dass das Brasilianische Institut für Psychobiologische Forschung (IBPP) 1973 eine Gruppe von Wissenschaftlern damit beauftragte, ein Dossier über den 1951 bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Mirabelli anzulegen.

Die Wissenschaftler trugen binnen weniger Wochen zahllose Augenzeugenberichte zusammen und machten auch drei von Mirabellis Söhnen ausfindig, die sie über ihren Vater zu befragen begannen.

Cesar Auguste Mirabelli war Mitglied des Überfallkommandos von Sao Paulo und stand dem Spiritismus sehr skeptisch gegenüber, da er zu 99% Betrug, Geheimnistuerei und Gutgläubigkeit dafür verantwortlich machte. Auf seinen Vater angesprochen entgegnete er den Befragern, dass er es offen sagen würde, wäre sein Vater ein Betrüger gewesen. Dass er keiner war, begründete er mit den Vorfällen, die sich jeden Tag vor aller Augen in seinem Elternhaus abgespielt hatten. So schilderte er, dass sich eines Tages eine Ziervase aus Porzellan, etwa 60 Zentimeter hoch und um die 4 kg schwer, etwa 40 cm von ihrem dreibeinigen Sockel erhob, plötzlich abdrehte, gegen eine 2 m entfernte Wand schlug und in tausend Scherben zerbrach. So etwas, versicherte Cesar den Wissenschaftlern, konnte in seinem Elternhaus fast täglich, überall und jederzeit passieren.

Regene Mirabelli, Geschäftsmann und Amateur-Hypnotiseur, erzählte von einem anderen, bemerkenswerten Vorfall. Er erzählte, dass er einmal ein merkwürdiges Geräusch gehört habe und daraufhin ins Wohnzimmer gelaufen sei. Dort fand er seine Mutter unter den Möbeln begraben. Sie hatte sich an solche Dinge bereits gewöhnt, denn es geschah sehr oft, dass sie den Tisch sorgfältig deckte, sich abwandte und im gleichen Augenblick alles vom Tisch auf den Fußboden gefegt wurde.

Mirabellis ältester Sohn Luiz war einer der Augenzeugen des berühmtesten Vorfalls im Leben seines Vaters. Während einer Seance in einem hell erleuchteten Zimmer erhob Mirabelli sich gemächlich in die Luft, blieb lange genug oben, damit man ihn fotografieren konnte, und schwebte dann langsam wieder zu Boden.

Als das IBPP-Team nähere Untersuchungen zu dieser Erzählung anstellte, stieß es schließlich auf einen Grundstücksmakler namens Fenelon Alves Feitosa, der Mirabelli gut gekannt hatte und nun damit beauftragt worden war, ein Haus zu verkaufen, in dem dieser früher Seancen abgehalten hatte.

Die Forscher sahen sich das Haus Nr. 6 in der Rua Natal im Distrikt Tucurivi näher an. Als sie durch die Zimmer gingen, erkannten sie den Raum wieder, der auf jenen berühmten Fotos im Hintergrund zu erkennen war. Die Decke dieses Raums war 5 m hoch, und auf den Fotos schienen Mirabellis Füße etwa halb so weit vom Erdboden entfernt zu sein..

Die Forscher trugen noch viel Material um Carmine Mirabelli zusammen, waren am Ende aber nicht in der Lage, das Rätsel um seine außergewöhnlichen Fähigkeiten zu lüften. Der einzige, dessen Unterlagen möglicherweise etwas Licht ins Dunkel hätten bringen können, war Theodore Besterman, der Mirabelli in den 30er Jahren im Auftrag der Society for Psychical Research (SPR) in London beobachtet hatte. Besterman war Zeuge vieler außergewöhnlicher Vorfälle geworden, war jedoch stets davon überzeugt, dass Mirabelli schlicht und einfach ein Betrüger war. Als er diese Erklärung veröffentlichte, sprachen Mirabellis Anhänger nie wieder ein Wort mit ihm. Als Besterman starb, hinterließ er so gut wie keine Aufzeichnungen über seine Beobachtungen Mirabellis – und das Forscherteam war um seine wichtigste Quelle gebracht worden.

So bleibt der Brasilianer Carmine Mirabelli eines der größten und unerforschtesten Medien in der Geschichte der Parapsychologie.

 

Zusammengestellt am 17.5.2001      von Katrin Glase.

 

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