Schadenfreude

 

Nur ein Mensch mit viel Phantasie hätte erkennen können, was Freddie da auf seinem Nachhauseweg gut gelaunt vor sich hin pfiff. Freddie bemerkte seine falschen Töne nicht, und wenn sie ihm bewusst gewesen wären, hätte ihn das auch nicht gestört. Gute Laune pflegte sein ohnehin nicht geringes Selbstwertgefühl noch erheblich zu steigern. Und seine Laune war super, denn es versprach ein ausgezeichneter Tag für ihn zu werden. Schon der Vormittag hatte sich bestens angelassen. Nach der fünften Unterrichtsstunde hatte er sich nämlich vorzeitig aus dem Staub machen können, und danach war das Glück ihm ein weiteres Mal hold gewesen. 

 

Auf dem Schulhof hatte er die um zwei Jahre jüngere Isabelle getroffen, die mit einem Schwarzen ging. Ein Schwarzer, man musste sich das mal vorstellen: ein hübsches, blondes deutsches Mädchen aus gutem Hause, das mit einem Nigger herummachte. Natürlich wussten ihre Eltern nichts davon. Und genauso natürlich lag ihr sehr viel daran, dass sie auch nichts erfuhren. Damit dies so bliebe, war sie bereit – ob gern oder ungern, war ihre Sache -, Freddies spärliches Taschengeld durch gelegentliche Spenden aufzufrischen. Heute war wieder Zahltag gewesen, und somit war der Nachmittag gerettet. Zockmaschinen, habt Acht, Freddie kommt!

 

Doch bevor es so weit war, musste er erst nach Hause gehen und nachsehen, ob seine Stiefel endlich wieder den Weg vom Schuster zurück gefunden hatten. Seine Mutter sollte sich nicht immer so anstellen, von wegen, sie könne so schlecht laufen. Ewig das Gejammer wegen ihrer schmerzenden Beine. Sollte sie sich doch die Krampfadern endlich wegmachen lassen. Sahen eklig genug aus, diese blauroten, schlangengleichen Wülste an ihren Unterschenkeln.

 

Inzwischen hatte er das Hochhaus erreicht, in dem er wohnte. Vor der Haustür traf er auf Simon, den kleinen Rotzer aus dem 7. Stock, der hektisch in seinem Schulranzen wühlte und dabei von einem aufs andere Bein zappelte.

 

„Na, Schlüssel vergessen?“ fragte Freddie ihn hoffnungsvoll. Er wusste, dass Simons Eltern beide berufstätig waren und Simon ohne Schlüssel nicht eher in die Wohnung konnte, bis einer der beiden von der Arbeit zurückkehrte.

 

Da die kleinen Jungs des Hauses immer mit ihren Inlineskates mit angeberischem Geschick im Hof herumwuselten und ihm dabei gewaltig auf den Wecker gingen, weil er selbst keine besaß, konnte er sie allesamt nicht leiden. Und Simon schon mal gar nicht. Er hätte es dem Kerl gegönnt, wenn er nun stundenlang auf seine Mutter hätte warten müssen, die als Erste nach Hause kommen würde.

 

„Da ist er!“ Erleichtert hielt Simon zum Beweis seinen Schlüsselbund in die Höhe. „Zum Glück, denn ich muss mal ganz dringend.“ Hastig schloss er die Tür auf.

 

Freddie war es schon lange ein Dorn im Auge, dass ein so kleiner Rotzer einen Schlüssel haben durfte, während ihm selbst seine eigenen Eltern soviel Selbstständigkeit verweigerten, obwohl er in weniger als zwei Jahren volljährig wurde. In seinem Alter brauche er noch keine Schlüssel, so war ihm energisch beschieden worden. Seine Mutter und sein Vater, ein Frührentner, seien ja fast immer zu Hause. Und anlässlich der wenigen Ausnahmen habe man sich bisher immer arrangieren können.

 

Zorn stieg in Freddie auf.

 

Mit einem hämischen Grinsen schnappte er sich die Schlüssel aus Simons Hand und drängte den Jungen aus der Tür. Ganz weit holte er mit dem Arm aus, bevor er den Schlüsselbund in weitem, hohen Bogen über den Hof bis zum nächsten Garagentor warf. Schnell schlüpfte er ins Haus und drückte die Tür vor den erschrockenen Augen des Jungen ins Schloss.

 

„Piss dir doch ins Hemd!“ Hämisch zeigte er ihm durch die Scheibe hindurch den ausgestreckten Mittelfinger und wandte sich sodann befriedigt dem Aufzug zu.

 

Freddie wohnte zwar im ersten Stock, doch bequemte er sich höchst selten zum Treppensteigen. Auch heute wählte er den Aufzug, und als er den Knopf fürs erste Stockwerk drückte, fiel ihm eine weitere Methode ein, wie er den kleinen Rotzer Simon noch ein bisschen länger unter seiner drückenden Blase leiden lassen könnte.

 

Mit frohlockendem Schwung tippte sein Zeigefinger auf der Knopfleiste des Aufzugs nacheinander sämtliche Zahlen bis hoch ins fünfzehnte Stockwerk. Nun würde die Kabine erst dann wieder hinunter fahren und im Parterre Halt machen, wenn sie ihre gesamte Aufgabe abgearbeitet hatte.

 

Und der kleine Rotzer würde sich inzwischen in die Hose machen. Vielleicht würde er auch in die Ecke neben der Haustür pinkeln, so wie Freddie es selbst schon ein paar Mal getan hatte. Zwar traute er es dem kleinen Streber nicht so recht zu, aber wer weiß? Und vielleicht würde der dann von einem der spießigen Hausbewohner dabei überrascht und so richtig angepflaumt werden.

 

Freddie grinste zufrieden. Ja, heute war wirklich sein Tag.

 

Als er im ersten Stock aus dem Aufzug trat und über den Korridor ging, fielen ihm zwei Dinge gleichzeitig auf: Die eigene Wohnungstür stand einen Spalt weit offen. Und in der daneben liegenden Drahtglastür, die zum Treppenhaus führte und nur von innen zu öffnen war, klaffte ein mehr als faustgroßes Loch. Jemand mit ungewöhnlichen Kräften hatte mit welchem Hilfsmittel auch immer die Scheibe durchgestoßen.

 

Jäh verblassten sämtliche Hochgefühle des Vormittags zu einer ungewissen Angst. Waren etwa Einbrecher im Haus? Er sollte besser zusehen, dass er so schnell wie möglich in die Wohnung gelangte.

 

Erst als er die angelehnte Tür aufstieß, wurde ihm bewusst, dass er einen riesengroßen Fehler begangen hatte. Schon vom Eingang her konnte er am anderen Ende des Flurs seine Mutter auf dem Boden liegen sehen, die Beine unnatürlich verrenkt. Von ihrer oberen Hälfte war kaum etwas zu erkennen. Kopf und Oberkörper schwammen in leuchtendem, frischen Blut. Es war aus einem weit klaffenden Schnitt unterhalb ihres Kinns hinausgespritzt, hinausgeflossen, und es war immer noch in sickernder Bewegung.

 

Freddie presste die Hand vor den Mund. Dann fiel sein Blick auf den karierten Hausschuh seines Vaters, der hinter dem Rahmen der Wohnzimmertür hervorlugte. Ein Stück des nackten, blutbespritzten Knöchels war auch noch zu sehen, sonst nichts mehr.

 

Er öffnete den Mund zu einem Schrei, aber es kam kein Ton heraus.

 

Plötzlich bewegte sich die mit blutigen Fingerspuren verschmierte Badezimmertür. Sie ging nach außen auf, und so konnte Freddie zuerst nicht erkennen, was dahinter hervorkam. Vorerst sah er nur ein riesiges, blutverschmiertes Messer in einer blutigen Faust.

 

Freddie wollte weglaufen, doch seine Beine gehorchten nicht. Statt dessen stieg brennende Übelkeit in ihm hoch. Sein Mageninhalt schwappte mehrere Male vergeblich gegen das Hindernis seiner vor Entsetzen zusammengeschnürten Kehle.

 

Erst als sich die Tür noch weiter öffnete und die bisher dahinter verborgene Gefahr Gestalt annahm, kam wieder Leben in Freddie. Noch im Umdrehen nahm er das Aufblitzen in den Augen dieser Gestalt wahr. Ob er mehr als dieses unheilvolle Leuchten gesehen hatte, hätte er nicht zu sagen gewusst, wenn ihn jemand gefragt hätte. Aber es fragte ihn niemand. Es war niemand da, der ihn fragen konnte. Er war ganz allein mit dieser Bestie, die seine Eltern getötet hatte.

 

Irgendwie trugen ihn seine Beine aber jetzt doch den gewohnten Weg zurück zum Aufzug, dem er vor wenigen Augenblicken erst entstiegen war. Er verfluchte denjenigen Hausbewohner, der in der Zwischenzeit die Kabine in ein anderes Stockwerk geholt hatte. In panischer Angst hämmerte er mehrfach auf den Rufknopf.

 

Die Erinnerung daran, was er beim Hinauffahren getan hatte, fiel ihm erst viele hämmernde Herzschläge später ein.

 

Danach befand sich der Aufzug noch immer auf seinem Weg nach oben, auf den er selbst ihn geschickt hatte. In jedem noch folgenden Stockwerk würde er anhalten, würde sich seine Tür öffnen, einen Moment einladend offen bleiben und sich dann wieder schließen. Dann würde die Kabine ihre Fahrt fortsetzen. Bis zum nächsten Stockwerk. Und so weiter. Bis sie endlich im 15. Stock angekommen sein würde. Erst anschließend würde der Aufzug wieder verfügbar sein. Nicht vorher.

 

Auch nicht, wenn schon das blutige Messer in der Wohnungstür auftauchte und es um Leben und Tod ging.

 

Unten wartete Simon, der sich inzwischen seinen Schlüssel wieder geholt hatte, vor dem Aufzug. Seine Blase schien bersten zu wollen, und er hatte schon Schweißausbrüche, weil er es mit der Angst zu tun bekam, er könne sich womöglich nicht länger beherrschen. Natürlich hatte er erkannt, was Freddie mit dem Aufzug gemacht hatte, und er wünschte ihm sämtliche Folterqualen an den Hals, die sich sein jugendliches Vorstellungsvermögen nur auszudenken vermochte.

 

Dabei waren die grausigen Schreie, die durch den Aufzugschacht aus dem ersten Stock zu ihm herunterdrangen, durchaus hilfreich, um seine Phantasie noch anzuheizen.

 

 

© Barbara Jung, 2001

 

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