Üb immer Treu und Redlichkeit

von

Barbara Jung

 

 

Mit einem ärgerlichen Knurren setzte er seine Unterschrift unter das letzte Schriftstück. War es möglich, dass es keine Computerprogramme gab, die wirklich zuverlässig jeden Fehler in einem Text erkannten, wenn schon die Schreibkräfte heutzutage nicht mehr wussten, wie man mit der deutschen Sprache umging?

Im ersten Ärger hatte er jeden einzelnen Brief des Stapels, den ihm Frau Caspari vorgelegt hatte, mit dicken Strichen quer über die Seiten versehen wollen. Er sah es als ein Unding an, Schreiben zu verschicken, die von Fehlern nur so wimmelten und dafür jedes zweite nötige Komma vermissen ließen. Doch dann hatte er es bleiben lassen. Das hektische Klappern der Stöckelschuhe Frau Casparis, als sie ihm die Briefe brachte, hatte ihn wissen lassen, dass sie in Eile war wie meistens in der letzten Zeit, und dass sie auch heute nicht gewillt schien, noch eine Viertelstunde daran zu hängen, um die Schreibfehler in ihren Briefen zu verbessern.

Nun ja, sagte er sich, wer kommt schon perfekt zurecht mit der neuen Schreibweise? Ihm selbst fiel es auch nach Jahren seit der Rechtschreibreform schwer, all das zu vergessen, was ihm seit Kindesbeinen in Fleisch und Blut übergegangen war, und sich statt dessen an die neuen, in seinen Augen zum Teil hanebüchenen Regeln zu halten. Wie konnte er da Perfektion von seinen Untergebenen verlangen, gerade wenn sie, so wie Frau Caspari, den Kopf voll hatten mit familiären Schwierigkeiten?

So hatte er, möglichst unauffällig, wie er hoffte, die Schreibfehler dünn mit TippEx überpinselt und sie mit seinem schwarzen Kugelschreiber berichtigt und hatte sämtliche fehlenden Kommas nachgetragen. Zum Glück waren es keine allzu wichtigen Briefe. Anderenfalls hätte er eine solche Schludrigkeit niemals durchgehen lassen dürfen. Immerhin musste er als Abteilungsleiter dieser Firma für Ordnung sorgen, und überdies zählte Gewissenhaftigkeit zu seinen hervorragendsten Charaktereigenschaften. Unzufrieden seufzend faltete er die Briefbögen, steckte sie in die beigelegten, beschrifteten und frankierten Umschläge und klebte diese zu.

Als er alles erledigt hatte, war es still im Haus geworden. Auch Frau Caspari schien bereits gegangen zu sein. Aus dem Nebenzimmer war jedenfalls kein Laut mehr zu hören. Die Unhöflichkeit, dass sie sich nicht von ihm verabschiedet hatte, befremdete ihn nur für einen kurzen Augenblick, da er sich sogleich ihre Sorgen und Nöte in Erinnerung rief, die sie seit Monaten quälten. Und ganz gesund war sie auch nicht, wie er wusste.

Sorgfältig sammelte er seine diversen persönlichen Habseligkeiten aus der Schreibtischschublade ein, die seine ständigen Begleiter waren: Nasenspray, Augentropfen, Papiertaschentücher und noch einige unverzichtbare Dinge mehr. Das Nasenspray steckte er in seine Anzugjacke, um sich vor dem Verlassen des Hauses noch ein, zwei kräftige Hübe zu genehmigen. Obwohl es erst Februar war, trug der kräftige Wind schon Pollen mit sich, wie er im Radio gehört hatte. Wer weiß, vielleicht half das Spray ja, einer Allergie vorzubeugen? Die restlichen Dinge packte er in seine Aktentasche, auch den Stapel Briefe, den er auf dem Nachhauseweg in den Briefkasten zu werfen gedachte. Dann zog er Schal und Mantel an und nahm einen Schnellhefter mit Schriftstücken unter den Arm, die er im Vorbeigehen dem Chef auf den Schreibtisch legen wollte. Nach einem prüfenden Rundumblick knipste er das Licht aus und verließ das Zimmer.

Draußen gähnte der leere Großraum in der Düsternis des frühen Abends. Wie immer hatten sämtliche Mitarbeiter die Gleitzeit genutzt, um am Freitagnachmittag ihre Schreibtische so frühzeitig wie möglich zu verlassen. Er bezweifelte, dass sie alle ihnen übertragenen Aufgaben vollständig erledigt hatten. Außerdem ärgerte er sich darüber, dass das Licht bereits gelöscht war. Nahm denn keiner Rücksicht auf ihn? Sie wussten doch, dass er meist der Letzte war, der nach Hause ging. Jetzt musste er den Großraum mit seinen verwinkelten Trennwänden in fast völliger Dunkelheit durchqueren. Nur die großen Panoramascheiben spendeten ein dämmriges Licht. Auch das Treppenhaus war erleuchtet und warf einen begrenzten Lichtkegel durch die offene Tür in den Großraum.

Mit einem leichten Frösteln im Nacken ging er zielstrebig und mit schnellen Schritten auf den hellen Fleck am Ende des Raumes zu. Er ertappte sich dabei, wie er aus den Augenwinkeln verstohlene Blicke in die Umgebung warf, für einen bangen Augenblick den hochwüchsigen Gummibaum von Kollegen Erler fest fixierte, nur um gleich darauf beruhigt festzustellen, dass es sich wirklich um besagte Pflanze mit ihren ausladenden Verzweigungen und nicht um ein Ungeheuer handelte, das einladend die Arme ausbreitete. Nun musste er doch über sich selbst den Kopf schütteln. Zwar war er kein überaus mutiger Mensch, das gestand er sich ehrlich ein, aber mit solch ausufernden abartigen Phantasieängsten war er normalerweise nicht behaftet.

Außerdem befand er sich nicht allein in diesem riesigen Haus. Der Chef war noch anwesend. Im kleinen Sitzungssaal eine Etage höher fand eine Tagung in kleinem Kreise statt, die sich sicherlich noch ein, zwei Stunden hinziehen würde. Dies war zumindest zu vermuten, der Vielzahl an Getränken und Appetithäppchen nach zu urteilen, welche die Chefsekretärin noch hatte besorgen müssen, bevor sie sich ins Wochenende verabschieden durfte. Er hatte die Platten mit Appetizern gesehen, als sie an ihm vorbei getragen wurden, und sie hatten ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Es musste ein besonders wichtiger Geschäftsabschluss sein, der da ausgehandelt wurde. Echten Kaviar und solche Mengen Lachs servierte man nicht alle Tage.

Derart abgelenkt, erreichte er jetzt ohne weitere Ängste und Sinnestäuschungen die offene Tür zum Treppenhaus. Das Chefzimmer, wo er den Schnellhefter ablegen wollte, war auf dem gleichen Stockwerk gelegen, nur drei Türen weiter. Er näherte sich dem Heiligtum gemessenen Schrittes, stellte seine Aktentasche ab und rückte seine Krawatte gerade, bevor er höflich anklopfte. Noch niemals hatte er sich anders verhalten. Warum sollte er es jetzt tun?

Wie gut er mit dieser eingefleischten Höflichkeit beraten war, zeigte, sich, als nach seinem Anklopfen Geräusche aus dem Zimmer die Anwesenheit des Chefs anzeigten. Doch er wartete vergeblich auf eine Aufforderung zum Eintreten. Er musste sich getäuscht haben.

Vorsichtshalber klopfte er ein weiteres Mal an die Tür und drückte dann entschlossen die Klinke herunter.

Im Zimmer brannte Licht. Das war nicht weiter verwunderlich. Verwunderlich war, dass eine Anzahl Bücher aus dem Regal hinter dem wuchtigen Schreibtisch ausgeräumt und der an der Rückwand des Regals befindliche Safe halb geöffnet war. Eine solche Nachlässigkeit war er von seinem Chef nicht gewöhnt.

Erschrocken wich er einen Schritt zurück, dann machte er zögernd drei, vier Schritte wieder ins Zimmer hinein. Und noch ein paar Schritte. Kalter Schweiß brach ihm aus. Fieberhaft überlegte er. Handelte es sich hier etwa um einen Einbruch?

Und wenn ja, befand sich der Täter noch im Raum? Blitzschnell schaute er sich um. Es war niemand zu sehen, und es gab auch keine Möglichkeiten, wo ein Mensch sich verstecken könnte. Bis auf den Schrank!

Er brauchte nicht lange nachzudenken. Er würde den Teufel tun und die Schranktür öffnen. Nein, er würde ganz schnell die mitgebrachten Unterlagen auf den Tisch legen und dann das Weite suchen. Was natürlich heißen sollte, dass er ins Sitzungszimmer hinauf laufen und den Chef verständigen würde.

Weit hielt er die Mappe mit den Unterlagen vor sich, als er zum Schreibtisch hastete. Dabei stolperte er über die Teppichkante, und während er heftig mit den Armen fuchtelte, um das Gleichgewicht wieder zu gewinnen, entglitt die Mappe seinen schweißfeuchten Fingern und fiel zu Boden. Und als er sich bückte, um sie aufzuheben, sah er sie.

Hinter dem Schreibtisch kauerte sie, Frau Caspari, seine Sekretärin, geisterbleich und mit zuckenden Lippen. Aus weit geöffneten Augen starrte sie zu ihm hin. Mit ihrer linken Hand, die jetzt blitzschnell hinter ihrem Rücken verschwand, umklammerte sie ein Bündel Geldscheine. Er hatte es gerade noch sehen können.

Ihm stockte der Atem, und er brauchte eine geraume Weile, bis er die ersten Worte fand. Auch sie blieb stumm, starrte nur, ihre Augen flehten.

„Frau .. Frau Caspari“, stammelte er schließlich.  „Was tun Sie denn da?“

Sie antwortete nicht. Was hätte sie auch sagen sollen? Es war doch offensichtlich, was sie tat. Sie begann zu weinen. Kleine herzzerreißende Töne stahlen sich über ihre Lippen.

Er war ratlos. Was sollte er tun? Er fühlte sich außerstande, diese Situation zu bewältigen. Auf den Gedanken, zum Telefon zu greifen und den Chef im Sitzungssaal zu Hilfe zu rufen, kam er nicht, so aufgelöst war er – mindestens ebenso aufgelöst wie Frau Caspari, die in der Zwischenzeit laut und hemmungslos zu schluchzen begonnen hatte.

„Seien Sie still!“ sagte er und bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. „Und stehen Sie auf!“

Die Beine schienen ihr den Dienst versagen zu wollen, als sie gehorsam vom Boden hochzukommen versuchte. Vielleicht bereiteten ihr auch die hohen Absätze ihrer Schuhe und der enge Rock Schwierigkeiten. Jedenfalls streckte er ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Da erst bemerkte er, dass sie Plastikhandschuhe trug.

Wie eine Ertrinkende klammerte sie sich an seine Finger. Das Plastikmaterial fühlte sich glatt und irgendwie eklig an. Abscheuerregend wie die ganze verdammte Angelegenheit.

„Verraten Sie mich nicht!“ weinte sie, gedämpft nun, nur von kleinen Schluchzern unterbrochen. „Sie wissen ja gar nicht ...“

„Nein!“ fuhr er sie an und entzog ihr seine Hand. „Wie man so etwas tun kann, weiß ich wirklich nicht. Ich hätte nie gedacht, dass Sie ... kriminell sind. Wie können Sie Ihren eigenen Chef, Ihre eigene Firma bestehlen?“

Mit niedergeschlagenen Augen, aus denen noch immer Tränen perlten, stand sie vor ihm, den Kopf auf das Bündel Geldscheine in ihren bebenden Fingern gesenkt. Mittlerweile hatten die Tränen eine schwärzliche Farbe angenommen: Das Augenmake-up hielt einem solch gewaltigen Ansturm salziger Flüssigkeit nicht stand.

Mit einem Anflug von Trotz wisperte sie: „Ich bin nicht kriminell. Und es ist auch nicht meine Firma.“

Er schüttelte den Kopf vor soviel Wortklauberei. Er selber hatte sich immer mit der Firma identifiziert, an ihrem Wohl und Wehe teilgenommen. Seit er hier arbeitete. Und das waren schon eine erkleckliche Anzahl von Jahren. Wie sonst hätte er es so weit bringen können? Immerhin hatte er ganz klein angefangen. Nur sein Pflichtbewusstsein, sein Eifer und seine Loyalität hatten ihn auf den Stuhl des Abteilungsleiters gebracht.

„Sie wissen doch“, sprach Frau Caspari jetzt auf ihn ein, „meine Tochter, sie ist erst achtzehn, und dann das Baby ... Und der Schwiegersohn ... er wird noch weiter auf die schiefe Bahn rutschen, wenn er nicht aufhört zu spielen ... Ich wollte doch nur ....“

„Sie wollten doch nur seine Spielschulden bezahlen.“ Wieder schüttelte er den Kopf. „Ich weiß Bescheid, Frau Caspari. Immer wieder haben Sie dem Kerl aus der Patsche geholfen. Aber hat es etwas genützt?“

„Es steckt ein guter Kern in ihm“, versicherte sie eindringlich. „Er braucht das Geld. Nur noch dieses eine Mal, hat er mir geschworen. Dann ist er alle seine Schulden los und kann neu anfangen.“

„Neu anfangen zu spielen, meinen Sie!“ antwortete er bitter. „Und Sie sind ihre Stelle los. Das war die Sache doch nicht wert. Haben Sie etwa schon öfter ...?“ Er machte eine kleine, fast scheue Kopfbewegung zum Safe hin. Nein, dachte er dann. Man hätte davon gehört, wenn schon vorher Geld aus dem Safe verschwunden wäre. Es hätte Befragungen und Untersuchungen gegeben. Polizei wäre hier gewesen. Aber nichts von alledem.

Zu seiner nicht gelinden Verblüffung nickte sie zaghaft. „Zweimal bisher“, beantwortete sie seine Frage. Dann erwachte wieder der Trotz in ihren Augen. „Er hat es noch nicht einmal bemerkt, soviel ist da drinnen. Stellen Sie sich vor: ER MERKT ES NOCH NICHT EINMAL, WENN IHM GELD GESTOHLEN WIRD!!“

Er wusste nicht, ob er es glauben sollte oder nicht. Eines jedoch wusste er sicher: Das Geld, das Frau Caspari da in ihrer Hand hielt, durfte diesen Raum nicht verlassen. So leid ihm diese vom Schicksal gestrafte Frau auch tat, einen Diebstahl würde er nicht dulden. Allein bei dem Gedanken daran schüttelte ihn das nackte Entsetzen. Lieber wollte er ihr anbieten, ihr vielleicht privat auszuhelfen, selbst wenn ihm auch dieser Gedanke beinahe Übelkeit bereitete. Sein Geld für die Spielschulden eines ihm völlig Fremden ...? Er hatte selbst nur wenig auf der hohen Kante ...

Eines jedoch hätte er zu gerne gewusst.

„Wie konnten Sie den Safe öffnen? Den Code wissen nur der Chef selbst, die Chefsekretärin und die Herstellerfirma.“ Als es heraus war, wünschte er, er hätte sich lieber die Zunge abgebissen. Wie kam er dazu, sich zum Mitwisser zu machen?

„Es war Zufall“, gestand sie und zog geräuschvoll die Nase hoch. Sie bückte sich und hob ihre Handtasche auf, die neben ihren Füßen auf dem Boden lag. Sie brachte das Kunststück fertig, die Plastikhandschuhe abzustreifen, in die Tasche zu stopfen und statt dessen ein Taschentuch herauszuziehen, mit dem sie sich die Nase putzte, und das alles, ohne das Geldbündel loszulassen.

„Als der Safe installiert wurde“, sprach sie kläglich weiter, „war die Sekretärin krank. Ich musste sie vertreten und war beauftragt, für den Chef und den Herrn von der Lieferfirma Kaffee zu kochen. Als ich ihnen den Kaffee brachte, kam ich gerade dazu, wie sie über die Zahlen- und Buchstabenkombination sprachen. Aus den Äußerungen des Chefs konnte ich mir den Code dann unschwer zusammenreimen. Ganz einfach: der Name seines Hundes und sein eigenes ...“

Er hob abwehrend die Hand. Das wollte er alles nicht wissen. Nein, wirklich nicht!

„... Geburtsdatum, immer Zahlen und Buchstaben abwechselnd.“ Sie hatte schon geendet.

„Gleichviel“, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. „Jetzt legen Sie das Geld zurück in den Safe, schließen ihn, und wir wollen die ganze Angelegenheit vergessen.“

Sie schaute ihn ungläubig an. „Sie ... Sie scherzen“, stotterte sie. „Sie, der ein Ausbund an Redlichkeit sind, ein leuchtendes Beispiel der Loyalität für alle Angestellten, Sie wollen die Sache vertuschen?“

Er zuckte unglücklich mit den Schultern. „Ich weiß, wie schlimm Sie dran sind. Ihre ausgeflippte Tochter als blutjunge, unfähige Mutter, der kriminelle Schwiegersohn ...“ Er übersah das Aufblitzen in ihren Augen und fuhr fort: „Tun Sie, was ich gesagt habe. Dann wollen wir in Ruhe über alles reden. Vielleicht kann ich Ihnen aushelfen. Ein einziges Mal ... und nicht allzu viel“, setzte er eingedenk seines schmalen Sparguthabens schnell hinzu.

Ritt ihn eigentlich der Teufel? fragte er sich. Wie kam er dazu, dieser ihm eigentlich fremden Frau Geld schenken zu wollen? Darauf lief es doch hinaus. Nie würde er auch nur einen Bruchteil davon zurück bekommen. Doch das Mitleid siegte über seine Vernunft. Vielleicht konnte man einen Vertrag aufsetzen oder etwas in der Art?

Kurz entschlossen nahm er ihr das Geldbündel aus der Hand. Sie war zu überrascht, um zu reagieren. Schon war er am Safe, öffnete ihn vollends, doch dann wusste er nicht, wo er das Geld hinlegen sollte. Es durfte ja nicht auffallen, dass es in Abwesenheit des Chefs berührt worden war. Ob es in diesem matt glänzenden, schwarzen Koffer gewesen war, der eines der Safefächer fast vollständig ausfüllte? Er drückte probehalber auf die Knöpfe und versuchte den Koffer zu öffnen, doch es gelang ihm nicht.

„Wo hat das Geld gelegen?“ fragte er und drehte sich zu ihr um.

Da stand sie direkt hinter ihm, packte ihn am Ärmel und machte Anstalten, das Geld erneut an sich zu nehmen. Ihr Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt.

„Ich glaube Ihnen nicht, dass Sie verschweigen wollen, was ich getan habe“, keuchte sie. „Und wenn doch, dann hätten Sie mich in der Hand und könnten jederzeit von mir verlangen, was Sie wollen.“

Sie riss an dem Bündel, das er jetzt seinerseits krampfhaft festhielt. Dies war das Geld der Firma oder das Geld seines Chefs, wie auch immer, und er würde es verteidigen. Es durfte nicht in falsche Hände geraten.

„Was denken Sie denn von mir?“ sagte er entrüstet. „Haben Sie doch Vertrauen zu mir, ich will Ihnen doch nur helfen.“

Auf einmal hielt sie eine Pistole in der Hand. Es war eine kleine, silbrig schimmernde Pistole. Oder war es ein Revolver? Er hatte noch niemals eine Schusswaffe aus der Nähe gesehen. Aber es interessierte ihn auch überhaupt nicht, um welche Art von Schusswaffe es sich handelte. Und auch nicht, woher sie diese auf einmal gezaubert hatte. Sie hielt sie in der Hand und auf ihn gerichtet. Sie bedrohte ihn damit!

Er kam sich vor wie in einem Alptraum. In einem fremden Alptraum, denn in seinen eigenen Träumen kamen solche haarsträubenden Dinge nicht vor. Er schnappte nach Luft.

„Geben Sie mir das Geld!“ forderte sie, ebenfalls atemlos, als sei auch sie ganz furchtbar erschrocken über die Entwicklung der Dinge.

Statt dessen hob er zögernd die Arme. Auch wenn ihm noch nie etwas Derartiges passiert war, so wusste er  doch, dass man die Arme hob, wenn man mit einer Waffe bedroht wurde. Wie schnell konnte ein Missverständnis zu einem vorschnellen Abdrücken dieser Waffe führen.

Doch als er da stand und sich sagte, dass er ihr jetzt das Geld aushändigen sollte, gleichgültig, ob es sich mit seinen Moralvorstellungen vereinbaren ließ oder nicht, erwuchs ein winziger Funken Wut in ihm, der sich schnell zu einem lodernden Feuer entwickelte. So ein dämliches, hartherziges Biest! Sie bedrohte ihn, ihn, der ihr helfen wollte, aus dem Schlamassel herauszukommen. Der verhindern wollte, dass sie zu allem anderen Unglück auch noch ihre Stellung verlor.

Blitzschnell griff er in seine Jackentasche und nach dem darin befindlichen Nasenspray. Noch im Hervorziehen streifte er mit dem Daumen die Schutzkappe ab und drehte das Fläschchen in seiner Hand so, dass er gleich zudrücken konnte. Er hob die Hand, und bevor sie überhaupt begriff, was sich tat, sprühte er ihr die salzige Lösung in die Augen, erst in das eine und dann in das andere. Wie von Sinnen wiederholte er diesen Vorgang auch dann noch, als sie unter einem leisen Aufschrei mit beiden Händen zu ihren Augen fuhr, um sie zu schützen.

„Schuft!“ ächzte sie dabei. „Alter, dreckiger Schuft!“

Und er, der schon bereit gewesen war zu bedauern, dass er ihr dieses Zeug, das zwar nicht gefährlich war, aber doch unangenehm beißen musste, in die Augen gesprüht hatte, entriss ihr die Pistole. Er hatte es bei Gott nicht nötig, sich von ihr beschimpfen und bedrohen zu lassen.

Sie musste das zornige Aufbegehren in seinen Augen gesehen haben, denn sie wich vor ihm zurück. Abwehrend streckte sie beide Hände aus und stammelte: „Nein, tun Sie mir nichts!“

„Was geht hier vor sich?“

Er hatte die Pistole schon halb erhoben, als die Stimme seine Erregung durchdrang. Sie war nicht einmal laut gewesen, aber dennoch schneidend und gefährlich. Auch Frau Caspari war zusammengezuckt. Beide fuhren sie herum, und er sah voller Entsetzen ihren Chef in der Tür stehen.

Sein Arm mit der Waffe ruckte noch ein Stück höher, bis ihn siedend heiß der Gedanke durchzuckte, welches Bild sie beide hier vor dem geöffneten Safe abgeben mussten. Da ließ er die Waffe sinken.

Der Chef war nicht allein. In seiner Begleitung befand sich sein Chauffeur. Im Türrahmen hinter ihnen tauchten zwei weitere Männer auf.

Frau Caspari fasste sich zuerst. Er sah, wie sie den Arm in seine Richtung streckte und mit dem Zeigefinger auf ihn deutete. „Er war es! Er hat Geld aus Ihrem Safe gestohlen!“ klagte sie ihn an.

Soviel Schlechtigkeit verschlug ihm den Atem. Nichts, aber auch  gar nichts fiel ihm zur Zurückweisung dieser unglaublichen Anschuldigung ein. Das halbherzige „Aber ... aber ... ich würde doch nie ....“ konnte als Verteidigung wohl kaum gelten.

„Sieh einer an ...“, sagte der Chef und kam furchtlos auf ihn zu, ungeachtet der Waffe in seiner Hand.

„Ich habe doch nicht ...“ murmelte er, als sein Chef vor ihm stand und ihm interessiert forschend ins Gesicht blickte, so als sähe er ihn heute zum ersten Mal. „Ich hätte Ihren Safe doch gar nicht öffnen können.“

„Und wie kommen Sie zu meiner Pistole?“

„Die hat er aus dem Safe genommen und mich damit bedroht, als ich ihn überraschte“, behauptete Frau Caspari schnell und laut.

Er konnte es nicht fassen. Er hatte seine Sekretärin vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes bewahren wollen, und nun sah alles so aus, als würde er selbst entlassen werden. Fristlos gekündigt, schmachvoll davongejagt. Er, ein jahrelang treu untergebener Mitarbeiter. Und damit nicht genug: Es würde ein Ermittlungsverfahren geben, und alles sprach gegen ihn. Sowohl auf der Pistole als auch am Safe, auf dem darin befindlichen Koffer und nicht zuletzt auf den Geldscheinen würde man seine Fingerabdrücke finden. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen.

Willenlos überließ er seinem Chef die Pistole und auch das Geld, als dieser fordernd die Hand danach ausstreckte. Unter dem Schleier seiner Tränen hervor sah er, wie sich der Lauf der Pistole auf Frau Caspari richtete. Er hörte einen Knall, kurz und scharf, und dann sah er Frau Caspari zu Boden fallen.

Noch während er hinsah, ohne recht zu begreifen, was geschehen war, fühlte er einen harten, kalten Druck an seiner Schläfe.

Es ist ungewiss, ob er den Knall des Schusses noch hörte, der sein Leben auslöschte.

„Räumen Sie das weg! Und beseitigen Sie auch die Blutflecke!“ befahl der Chef seinem Chauffeur angeekelt. Dann wandte er sich an die beiden anderen Herren.

„Kommen Sie! Lassen Sie uns unser Geschäft einen würdigen Abschluss finden. Ich will nur noch den Koffer mit dem Geld holen. Sie können gerne nachzählen: Es sollte jetzt wieder vollständig sein.“ Und er wedelte mit dem Geldscheinbündel.

„Das wollen wir Ihnen auch geraten haben“, lächelte einer der Herren. „Wir lassen uns nicht ungestraft über den Tisch ziehen, seien Sie dessen versichert.“ Seine Augen lächelten nicht mit.

 

Barbara Jung © 2001

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