Das geheime Leben des Fulcanelli
Der mysteriöseste Alchemist des 20.
Jahrhunderts
Der Name Fulcanelli taucht seit über einem
halben Jahrhundert immer wieder in der Literatur und den
Spekulationen des modernen Okkultismus auf, wenn es um den
vielzitierten Stein der Weisen oder das Lebenselixiers geht.
Da sich dieser Alchemist hinter einem
Pseudonym verbarg, ist seine Identität bis heute völlig ungeklärt.
Sicher ist nur, dass die Legende um Fulcanelli im Paris der 20er
Jahre des 20. Jahrhunderts entstand. Okkultisten und Alchemisten
bekamen damals von einem gewissen Eugène Canseliet, einem
ernsthaften, schmächtigen Mann Anfang 20, versteckte,
faszinierende Hinweisen auf einen Meister, der im Verborgenen
leben und wirken sollte.
Canseliet, der sich einen Ruf als
leidenschaftlicher Erforscher der Alchemie gemacht hatte, lebte
damals in Nachbarschaft mit dem 22 Jahre älteren Jean-Julien
Champagne, einem verarmten Künstler und Illustrator. Die beiden
Männer standen im Mittelpunkt einer kleinen, ausgewählten
Gruppe von Okkultisten und wurden häufig in den großen
Bibliotheken der Stadt, wie dem Arsenal, Sainte Geneviève,
Mazarin und der Bibliothèque Nationale, gesehen, wo sie
gemeinsam in seltenen Büchern und Manuskripten stöberten.
Mehrere außenstehende Mitglieder der
Studiengruppen hörten schließlich gerüchteweise, dass jener
Meister Fulcanelli ein älterer, vornehmer, reicher und sehr
gebildeter Mann adeliger Abstammung sein sollte, der kurz vor der
Vollendung des Großen Werkes wie man die
Herstellung des Steins der Weisen und des Lebenselixiers auch
nannte stehen sollte oder es möglicherweise bereits
realisiert habe. Wer dieser Meister Fulcanelli jedoch war, blieb
weiterhin verborgen, denn wirklich begegnet waren ihm offenbar
nur Canseliet und Champagne. Es dauerte nicht lange, bis auch
diese Begegnungen schließlich in Zweifel gezogen wurden und
einige Skeptiker begannen, Fulcanellis Existenz in Frage zu
stellen.
Im Herbst 1926 tauchte dann das, wenn auch
nicht ganz eindeutige, Beweismittel für die vorgebliche Existenz
jenes Mannes auf: das Buch Le Mystère des Cathédrales (Das
Rätsel der Kathedralen), das in einer Ausgabe von nur 300
Exemplaren erschien, ein Vorwort von Eugène Canseliet und 36
Illustrationen von Champagne aufwies und eine esoterische
Interpretation der hermetischen Symbole des Großen Werkes
versprach.
Das Buch wurde unter Okkultisten zu einer
kleinen Sensation, denn es wurde darin versucht, die Symbole
verschiedener gotischer Kathedralen und anderer Gebäude Europas
als verschlüsselte Anweisungen für alchemistische Geheimnisse
zu deuten etwas, das in dieser Deutlichkeit noch nie zuvor
geschehen war. So deutete Fulcanelli zum Beispiel im Portal der
Kathedrale von Notre-Dame die Ornamente auf dem zentral
dargestellten Sarkophag als Symbole der sieben Planetenmetalle.
In der Alchemie steht die Sonne für Gold, Merkur für
Quecksilber, Saturn für Blei, Venus für Kupfer, der Mond für
Silber, Jupiter für Zinn und Mars für Eisen. Nach Fulcanellis
Theorie nun gab die Darstellung der Ornamente jenes Portals
Hinweise auf die Umwandlung dieser Metalle, und der Schlüssel
dafür würde in einer der dargestellten Figuren verborgen liegen.
Auch, wenn der Meister die Aufklärung
dieses Geheimnisses nicht bis zum Ende durchführte die
offensichtliche Gelehrtheit dieser Ausführungen sorgte dafür,
dass in okkulten Kreisen erneut ein wilder Spekulationsreigen über
Fulcanellis wahre Identität begann.
Eine der Theorien besagte zum Beispiel, dass
er von dem früheren französischen Königsgeschlecht der Valois
abstammte, das mit dem Tod Heinrichs III. 1589 offiziell
erloschen war. Die Valois, die sich stets viel mit Magie und
Mystik beschäftigten, hatten mit Margarete von Valois (1553-1615)
eine der bedeutendsten Mystikerinnen jener Zeit hervorgebracht,
von der man sogar behauptete, dass sie das Geheimnis des Großen
Werkes gekannt haben soll. Vertreter jener Theorie bekräftigten
diese Annahme mit Margaretes Wappen, das ein magisches Pentagramm
enthielt, dessen fünf Zacken jeder einen Buchstaben des
lateinischen Wortes SALUS (Gesundheit) trugen. Konnte also
der angeblich aristokratische Fulcanelli von den Valois abstammen?
Wies das lateinische Wort darauf hin, dass das alchemistische
Geheimnis der Langlebigkeit durch die Familie teilweise an ihn
weitergegeben wurde?
Eine weitere, recht kurzlebige, Vermutung
bezog sich auf den Buchhändler und Okkultisten Pierre Dujols,
der zusammen mit seiner Frau einen Laden in der Rue de Rennes im
Pariser Bezirk Luxembourg hatte. Von Dujols war bereits bekannt,
dass er praktizierender Alchemist war und unter dem Pseudonym
Magophon schrieb. Doch da es relativ unwahrscheinlich schien,
dass er zwei Pseudonyme verwendete, fiel er bald schon aus dem
Reigen der Spekulationen heraus.
Der nächste Kandidat war der Schriftsteller
J. H. Rosny, der Ältere, doch auch er kam nicht lange in Frage,
denn sein Leben war der Öffentlichkeit viel zu bekannt, als dass
sich derartige Mysterien darum spinnen ließen.
Auch drei andere Alchemisten, die die
Pseudonyme Auriger, Faugerons und Dr. Jaubert führten, fielen
bald aus der engeren Wahl, denn wie bei Dujols hielt man die
Verwendung von mehr als einem Pseudonym für sehr
unwahrscheinlich.
Schließlich fiel das Augenmerk der
Okkultisten auf Canseliet und Champagne selbst, die ja beide an
Fulcanellis Buch mitgearbeitet hatten und vorgaben, ihn persönlich
zu kennen. Die beiden Männer wurden nun genauer unter die Lupe
genommen, doch man kam bald zu dem Schluß, dass es Canseliet
nicht sein konnte. Er war viel zu jung, um die Gelehrtheit und
die Kenntnisse erworben zu haben, die in dem Buch so
bemerkenswert zum Ausdruck kamen. Außerdem unterschied sich der
Stil des von ihm geschriebenen Vorwortes deutlich von dem des
eigentlichen Textes. So blieb nur Champagne als wahrscheinliche
Wahl übrig, denn zum einen war er älter, erfahrener und zum
anderen hatte ihn seine Tätigkeit als Künstler mit Sicherheit
zu den verschiedensten interessanten Kathedralen, Schlössern und
Bauwerken voller Symbolik geführt, die Fulcanelli offensichtlich
gut studiert haben mußte, um einen derart detaillierten Schlüssel
zum Großen Werk zu verfassen.
Diese Annahme wurde unerwartet von Robert
Ambelain, einem Studenten des Okkulten, untermauert, der
unter dem Einfluß von Fulcanellis Buch selbst ein Werk
geschrieben hatte und damit zu Jean Schemit, dem Herausgeber von
Fulcanellis Buch, gegangen war. Während dieses Besuches erzählte
Schemit dem jungen Mann schließlich, dass er 1926 von einem
Fremden besucht worden war, der zwar seinen Namen nicht genannt,
ihn jedoch in eine Unterhaltung über die hermetischen Symbole in
gotischer Architektur verwickelt hatte. Ein paar Wochen nach
dieser Unterhaltung war dann Canseliet mit dem Manuskript zu Le
Mystère des Cathédrales bei ihm erschienen, das dieselben
Ideen und Formulierungen enthielt, die sein seltsamer Besucher
zuvor benutzt hatte. Schließlich war Canseliet mit Jean-Julien
Champagne, dem Illustrator, zu ihm gekommen, um letzte
Details zu klären und Schemit hatte ihn augenblicklich als
seinen geheimnisvollen Besucher wiedererkannt.
Ambelain war fasziniert von dieser Erzählung
und begann sich im Zuge der gerade auf Hochtouren laufenden
Spekulationen gründlicher über Champagne zu informieren.
Schnell stieß er auf verschiedene Fakten, die ihn in der Annahme
bestärkten, der wahren Identität des geheimnisvollen Meisters
auf der Spur zu sein. So fand er einen Artikel, in dem Champagne
selbst eine seiner Illustrationen in deutlich alchemistischen
Worten beschrieb, was seltsam anmutete, da Canseliet ihn stets
als kenntnislos auf diesem Gebiet bezeichnet hatte. Dann fand
Ambelain heraus, dass die erste Erwähnung Fulcanellis in genau
jener Gruppe stattgefunden hatte, die Canseliet und Champagne
stets in ihren Räumen zu versammeln pflegten. Auch Fulcanellis
Buch selbst enthielt einen klaren Hinweis, denn das auf der
letzten Seite abgebildete Wappenmotto UBER CAMPA AGNA klang verblüffend
wie eine phonetische Umsetzung des Namens Hubert Champagne. Laut
Jules Boucher, einem von Champagnes Studenten und Ambelains
Hauptinformant, lautete Champagnes voller Name Jean-Julien Hubert
Champagne!
Ambelain war überzeugt, den wahren
Fulcanelli gefunden zu haben und ließ sich weder von Canseliets
steten Dementis noch von den erdrückenden Gegenargumenten in
diesem Glauben beirren. Champagne selbst lieferte durch seinen
Lebensstil genügend dieser Gegenargumente, denn er war Zeit
seines Lebens ein bekannter Prahlhans, Witzbold und heftiger
Trinker, der auch nicht davor zurückschreckte, seinen bösartigen
Humor an seinen Mitmenschen auszuleben. Champagne erlag 1932 in
seiner Dachstube dem Wundbrand und nahm das Wissen, ob er mit
Fulcanelli identisch war, mit sich.
Doch damit war die Reihe der Spekulationen
noch nicht beendet.
Das drei Jahre vor Champagnes Tod veröffentlichte
zweite Buch Fulcanellis Les Demeures Philosophales (Die
Wohnungen der Philosophen) enthielt wiederum Interpretationen
spezieller architektonischer Deckenverzierungen in Herrenhäusern
und Schlössern des 12. bis 15. Jahrhunderts, bei denen es sich
um verschlüsseltes alchemistisches Geheimwissen handeln sollte.
Daraufhin entwickelte man eine weitere Theorie über Fulcanellis
mögliche Identität, dem auf dem Umschlag des zweiten Bandes
dieses Buches befand sich das Wappenschild von Dom Robert
Jollivet.
Im 13. Jahrhundert hatte sich dieser Abt von
Mont St. Michel mit Alchemie beschäftigt. Es wurde nun gemutmaßt,
dass sein moderner Namensvetter F. Jolivet Castelot in
Wirklichkeit Fulcanelli war. Der wiederum setzte sich entschieden
dagegen zur Wehr, denn er machte kein Geheimnis daraus dass er
sich ausschließlich als Alchemist sah, der mit der
konventionellen Chemie unedle Metalle in Gold verwandeln wollte.
Der Gipfel der Verwirrung war jedoch
erreicht, als Canseliet 1954 (also 22 Jahre nach Champagnes Tod)
öffentlich erklärte, Fulcanelli ein letztes Mal in einer in den
Bergen Spaniens gelegenen alten Burg begegnet zu sein. Fulcanelli
so Canseliets Schilderung schien physisch nicht
gealtert zu sein und erlaubte ihm, in einem Laboratorium seinen
Experimenten nachzugehen, bis Canseliet schließlich nach
Frankreich zurückkehren mußte.
Das Rätsel um die Identität dieses
Alchemisten ist nie gelöst worden, doch mehr als eine Person
behauptete, dass Fulcanelli die Schaffung des Großen
Werkes gelungen sei und er noch immer unerkannt unter den
Menschen leben würde. Stimmte diese Behauptung, wäre der Mann
heute über 140 Jahre alt.
Champagne starb 1932, Schemit 1945, Boucher
1957 und Canseliet Mitte der 80er Jahre.
Es bleibt jedoch die Frage, warum Fulcanelli
wenn er wirklich jemand anderes als Champagne war
all seine alten Freunde und Kollegen sterben ließ, wenn er sie
mit dem Lebenselixier hätte retten können?
Viel wahrscheinlich ist die Annahme, dass
Canseliet durch seine Dementis und Geschichten das Geheimnis um
Fulcanellis wahre Identität bewahren wollte und es dadurch
schaffte, die Erinnerung an seinen alten Freund und Mentor
Champagne in den Gedanken der Menschen lebendig zu halten.
Zusammengestellt am 23.02.2001
von Katrin Glase