DIE DUNKLE FLUT

 

Der alte Mann, dessen Alter schwer zu schätzen war, schaute auf, als er das Schnauben eines Pferdes vernahm. Er blinzelte als er in Richtung des auftauchenden Reiters blickte und dabei genau in die Sonne schaute. Er hob schützend die Hand vor sein Gesicht, um die Sonnenstrahlen abzuwehren.

Der Alte schaute auf den einsam wirkenden Reiter, der sich ihm unaufhörlich näherte. Schier unbeirrbar folgte der Fremde einer unsichtbar scheinenden Spur und bei jeder Bewegung wirbelten die Hufe seines Pferdes die Erde auf.

Einige Meter vor dem Mann zügelte der Reiter sanft sein Streitroß. Das Tier schnaubte auf, folgte jedoch dem Befehl seines Herrn und kam zu stehen. Der alte Mann starrte den Fremden interessiert an. Ein unmerkliches Lächeln verzog seine Mundwinkel, als er das Zeichen des roten Skorpions auf der schwarzen Rüstung erkannte.

Der Skorpion war das Zeichen des mächtigsten und gefürchtesten Ritterordens der Atala, der vor Jahrtausenden von Prinz Sitheros, dem ersten Großmeister, gegründet worden war.

„Möge das Licht mit dir sein, Meister Arillion“, begrüßte ihn der Ritter.

Der alte Mann nickt stumm.

„Den Namen habe ich lange nicht mehr gehört. Was führt einen Ritter des mächtigen Skorpionordens in diese einsame Gegend“, bemerkte er spöttisch.

Der Ritter nahm den dunklen Helm vom Kopf und entblößte ein noch recht junges Gesicht. Meister Arillion staunte. Er hatte ein viel älteres und härteres Gesicht erwartet. Was aber noch sein größeres Interesse erweckte waren die vollends ergrauten Haare des jungen Ritters.

Langsam stieg der Ordensmann von seinem Pferd.

„Mein Name ist Sir Hugh, genannt Silberhaar, Meister Arillion. Ich habe euch gesucht. Das Reich braucht eure Hilfe!“

„Mich? Was solltet ihr oder das sogenannte Reich von einem alten Mann wie mir wollen, Ritter?“

Jetzt grinste der Ritter, was ihm eine gefährlich Aura verlieh. 

„Ich weiß genau wer ihr seid. Ihr seid nicht der alte Mann, der ihr vorgibt zu sein. Ihr seid Arillion, der Wanderer, der letzte Großmeister der Magie. Also versucht nicht mich mit eurem Gehabe zu täuschen.“

Arillion lächelte  und richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf, was ihm ein viel jüngeres und vitaleres Aussehen verlieh.

„Also gut, Herr Ritter“, antwortete der Zauberer und fuhr sich mit seiner rechten Hand über sein gestutzten Bart. Mein Haus ist ganz in der Nähe. Dort können wir uns in Ruhe über alles weitere unterhalten.“

 

                                                                       *

 

Die kleine Hütte, die am Rand des Waldes stand, sah von außen nicht gerade sehr einladend auf. Das innere des kleinen Gebäudes strafte jedoch aller Voreingenommenheit seitens des Betrachters Lügen. Die Einrichtung war zwar schlicht, aber von hervorragender Qualität. Der große Raum in dem die beiden Männer standen, war sauber und aufgeräumt. Nichts deutete darauf hin, daß sich ihr Besitzer dem Studium der Magie widmete.

„Habt ihr etwa eine Hexenküche erwartet, Sir Hugh?“, bemerkte der Meister sarkastisch, als er den Blick des Ritters bemerkte. „Also, sagt mir, Herr Ritter, warum seid ihr gekommen?“

„Der namenlose Dämon ist mit seinen Heerscharen aus seinem Gefängnis ausgebrochen. Wir brauchen eure Hilfe!“

Arillion sah ihn ungläubig an.

„Was soll das heißen, junger Mann?“

„Ich glaub das wißt ihr so gut wie ich. Ich weiß zwar nicht aus welchem Grund der Dämon damals, als man die Chance hatte, nicht vernichtet hat, denn er war bestimmt nicht mächtiger als all die übrigen, die getötet wurden, aber ich denke, es hat wahrscheinlich etwas mit dem geheimnisvollen Tor zu tun. Habe ich recht?“

Arillion wollte schon zu einer Antwort ansetzen, besann sich aber dann eines besseren.

„Wer oder was ist dieses Wesen?“, fragte ihn der Ritter.

„Dieses Wesen, wie ihr es bezeichnet, ist kein Dämon. Es gehörte einer sehr alten Rasse an, die vor vielen Jahrtausenden existierte, lange bevor der erste Ataler diesen Kontinent besiedelte. Durch einen furchtbaren Krieg wurde die Kultur des ALTEN VOLKES vollständig zerstört. Nur wenige überlebten die Kämpfe und flüchteten durch, wie ihr bereits sagtet  geheimnisvolles Tor,  in eine uns unbekannte Welt. Jahrtausende später kamen sie zurück. Doch sie hatten sich verändert. Sie waren dem Bösen verfallen. Sie besiedelte das Land neu und ihre Macht wuchs ins unermeßliche. Ihre begangenen Taten und Verfehlungen waren so furchtbar, daß selbst die Götter dem Treiben nicht mehr tatenlos zusehen konnten. In ihrem Zorn zermalmten sie die Städte des erstarkten ALTEN VOLKES zu Staub und tilgten alle Aufzeichnungen und Erinnerungen an dieses Rasse, damit sich niemand mehr an sie erinnern möge. Die wenigen, die der Macht der Götter widerstanden, flohen in einen riesigen Turm, wo sie lebendig eingeschlossen wurden, daß niemand ihrer mehr ansichtig wurde. Doch Jahrtausende nach der Besiedlung durch die Ataler führte eine Expedition in die Braune Wüste und befreite beim Betreten des Turmes die Überlebenden des ALTEN VOLKES. Und was dann passierte, daß wißt ihr ja aus den alten Überlieferungen, Sir Hugh.“

Der Ritter nickte.

„Das Zeitalter der Tränen. Warum wurde das Tor und der NAMENLOSE nicht mit dem übrigen des ALTEN VOLKES vernichtet?“

„Die Erzmagier beschlossen gegen meinen ausdrücklichen Rat das Wesen nicht zu töten, da es als einziges die Macht besaß das Tor zu öffnen. Das Tor war, ihrer Meinung nach, eine mächtige Waffe und so bannten sie den NAMENLOSEN in den Turm.  Doch diese Narren hätten lieber die Finger davon lassen sollen. Ich habe sie immer und immer wieder davor gewarnt, daß eines Tages der mächtige Bann brechen und der NAMENLOSE wieder hervorbrechen würde. Und das ist wohl nun auch geschehen.“

Der Ritter nickte.

„Ja, die Sieben Pyramiden, die den Dämon im Turm bannten wurden zerstört und der NAMENLOSE und seine Diener beherrschen bereits weite Gebiete der Braunen Wüste.

 

                                                                       *

 

Weit im Westen saß eine schattenhafte Gestalt in einem alten Turm, den jedoch der Zahn der Zeit nichts hatte anhaben können. Der Dunkle Turm stand schon seit vielen Tausend Jahren hier, lange bevor der erste Mensch seinen Fuß auf diesen Kontinent gesetzt hatte.

Der Schatten grinste und seine Augen glühten in einem geheimnisvollen Licht. Als die ersten Menschen den Kontinent besiedelten und den Dunklen Turm entdeckten, wäre das beinahe ihr Ende gewesen. Doch die Macht ihrer Zauberer und ihre Tapferkeit war sehr groß gewesen und so vernichteten sie sein Volk und ihn selbst sperrten sie in diesen Turm. Lange hatte er gewartet. Die Helden von damals waren längst vermodert und der alte Bann gebrochen. Nun war er frei und seine Rache würde furchtbar sein. Er würde sie alle vernichten. Er ballte seine Faust. Niemand stand seinem Sieg mehr im Wege.

 

                                                                       *

 

„Und was soll ich nun tun, Sir Hugh?“

„Kommen sie mit  mir und vernichten sie den NAMENLOSEN und das Tor!“

Der Zauberer nickte.

„Was ist aus dem Rat der Zauberer geworden?“

„Sie sind alle tot, Arillion. Sie hielten sich gerade in den den Sieben Pyramiden auf, als das Böse sie vernichtete.“

Arillion blickte den Ritter an.

„Was haben diese Narren nur angerichtet. Keiner außer ihnen, hätten die magischen Fesseln lösen können.“

Sir Hugh schaute den Zauberer erstaunt an.

 „Meint ihr. Nein, daß glaube ich einfach nicht.“

„Sind sie alle tot?“

„Ja, Arillion. Auch die Ritter des Löwen-Ordens sind massakriert worden. Sie hatten nicht die geringste Chance. Sie wurden alle niedergemetzelt. Der Orden existiert nicht mehr. Wir müssen zurück in die Braune Wüste und den NAMENLOSEN vernichten!“

 

                                                                       *

 

Hauptmann Bedos wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Mit einer Handbewegung brachte er die Karawane zum Stillstand. Sein Sohn, der neben ihn ritt, schaute ihn fragend an.

„Warum halten wir, Vater?“

Der alte Soldat sah seinen Sohn Bane an, der seiner Mutter sehr ähnlich sah. Kurzgeschnittenes dunkles Haar, umrahmte sein noch jugendlich wirkendes Gesicht, das noch kein Leid gesehen hatte. Sein aufrichtigen Augen sahen ihn fragend an.

„Ich habe etwas gesehen, mein Sohn. Sieh!“

Der junge Mann schaute in Richtung, in die sein Vater deutete. Eine Staubwolke näherte sich unaufhörlich der Karawane

„Was kann das sein?“

„Vielleicht eine Gruppe Wüstenkrieger, die die Festungen der Todeslegion umgangen haben. Jedenfalls kommen sie immer näher.“

Bane nickte.

„Wird es zum Kampf kommen, Vater?“

„Aye, kann schon sein, mein Sohn. Wir sollten jedenfalls auf alles vorbereitet sein.“

 

                                                                       *

 

Die Kreaturen, die einem Alptraum zu entsprungen schienen stürzten sich ohne die geringste Vorwarnung auf die Karawane. Selbst die Veteranen unter den Soldaten, konnten ihren Schrecken nicht verbergen.

Der ersten Angriffswelle der unheimlichen Wesen hielten die Männer stand. Doch nur wenige Minuten später fiel die nächste Welle über die Soldaten her. Und diesmal brach die Linie der Verteidiger unter dem wilden Ansturm und der unbändigen Wut der Dämonen zusammen.

Bedos und sein Sohn Bane sahen Freunde und Bekannte unter den Hieben der Wesen fallen. In ihrem Blutrausch machten sie selbst vor Kindern und Frauen nicht halt.

Bald waren nur noch wenige Verteidiger übrig, die sich schützend um die Überlebenden gescharrt hatten.

Immer und immer wieder stürmten die Dämonen vor. Doch die Verteidiger hielten den Angriffen stand. Doch dann war es vorbei. Plötzlich öffneten die Wesen ihre blutigen Mäuler und stimmten ein wildes Kreischen an. Dann stürmten sie vor und begruben die letzten Menschen unter sich.

 

                                                                       *

 

„Sind sie denn verrückt geworden, Sir Hugh. Wir haben nicht die geringste Chance in die Braune Wüste zu gelangen. Was meinen sie wohl, welche die ersten Angriffsziele der Dämonen sind?“

„Die Städte Alexos, Atala, Delphos, Nipheros, Menochos und die Festungen der Todeslegion.“

Ein Wiehern unterbrach Arillion.

„Erwartet ihr etwa noch Besuch?“, fragte ihn Sir Hugh.

„Ihr beliebt wohl zu scherzen, Herr Ritter. Wer sollte mich wohl hier in der Einsamkeit besuchen wollen?“

Der Ritter nickte und zog sein Schwert. Als der Zauberer die Klinge betrachtete verengten sich seine Augen für einen kurzen Augenblick  und Erkennen blitzte in ihnen. Doch bevor er dem Ordensritter eine Frage stellen konnte, stand dieser bereits vor dem Haus und sah sich mit drei Gestalten konfrontiert, die das Zeichen des Löwenordens auf ihren Rüstungen trugen. Sir Hugh starrte die beiden erstaunt an, wußte er doch, daß niemand von dem Orden die Kämpfe bei den Sieben Pyramiden überlebt hatte.

Ein bärtiger Ritter trat Sir Hugh entgegen und begrüßte ihn höflich.

„Sie gegrüßt, Bruder.“

„Ihr auch. Was kann ich für euch tun?“

Der Bärtige grinste als Antwort.

„Wir suchen Meister Arillion. Ist er hier?“

Sir Hugh schüttelte den Kopf.

Die Augen des Bärtigen verengten sich zu Schlitzen und seine gespielte Höflichkeit war verschwunden.

„Es ist nicht gut einen Ordensbruder zu belügen, Herr Ritter!“

Sir Hugh blickte den Mann unbeeindruckt an und grinste frech.

„Wir sind keine Brüder und nie gewesen, Dämonenbrut. Ich schlage euch also vor, daß ihr von hier verschwindet!“

„Ihr wollte mich doch nicht etwa beleidigen. Tretet zur Seite, Sir Hugh und euch geschieht nichts. Wir wollen nur den Zauberer. Von euch wollen wir nichts“, erwiderte der Bärtige, dessen Hand zum Schwertgriff fuhr. Seine beiden Kumpanen, die bisher im Hintergrund geblieben waren, zogen ihre Waffen und kamen auf Sir Hugh zu.

„Das kann ich leider nicht tun!“

Jetzt war es der Bärtige der grinste und Sekunden später stürzten sich die drei auf Sir Hugh. Dieser parierte mehrere Hiebe und beförderte einen der Angreifer mit einem Tritt zu Boden. Doch trotz seiner Schwertkünste und den vielen Wunden, die er seinen Gegner zufügte, schien nichts die drei untoten Ritter aufhalten zu können. Silberhaar geriet langsam in Bedrängnis. Ein Hieb traf seinen Schwertarm und prellte ihm das Schwert aus der Hand. Sir Hugh trat Schritt um Schritt zurück und zog seinen Dolch.

Doch plötzlich bekam er unerwartet Hilfe. Jemand rief hinter ihm „Brennet!“ und Sekunden später standen die drei untoten Angreifer in Flammen. Nicht mal Asche blieb von ihnen übrig.

Silberhaar drehte sich langsam um und sah Meister Arillion mit einem Grinsen auf den Lippen vor sich stehen.

„So, Sir Hugh. Hebt euer Schwert auf und kommt ins Haus. Wir haben noch wichtige Dinge zu besprechen.“

 

                                                                       *

 

Als der junge Bane aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, richtete er sich langsam auf. Alle seine Glieder schmerzten ihn, aber er wurde sogleich hellwach, als er Kampfgeräusche vernahm.

Er sah sich um. Überall lagen Leichen. Der Geruch von Verwesung und Tod lag über dem Land. Dann sah er sie. Ein einsamer Krieger kämpfte gegen vier Dämonen, die ihn hart attackierten.

Bane griff nach Köcher und Bogen, die auf den Boden lagen. Zwei Pfeile waren noch übrig. Und er überlegte nicht lange. Mit einer schnellen Bewegung, die er seinen schmerzenden Gliedern gar nicht mehr zugetraut hätte, jagte er die Pfeile den Wesen entgegen. Mit einem dumpfen Laut trafen sie die Körper der Kreaturen und schleuderten sie tödlich getroffen zu Boden.

Bane warf den Bogen zu Boden und zog seine Kurzschwert. Erst jetzt erkannte er, dass der kämpfende Krieger sein Vater war, der aus mehreren Wunden blutete. Mit einem Hieb enthauptete er eine weitere Kreatur, die stumm zu Boden fiel und sich nicht mehr regte.

Doch dann passierte es. Bevor der junge Mann seinen Vater erreicht, riss der letzte Dämon mit einem gewaltigen Hieb die Brust seinen Vaters auf. Selbst die Kettenrüstung rettete Bedos nicht vor dem tödlichen Hieb. Bevor er zu Boden fiel, spaltete er jedoch mit einem verzweifelten Hieb dem Wesen den Schädel.

Bane kniete neben seinen Vater. Als er die furchtbare Wunde sah, wusste er, dass sein Vater nicht mehr zu retten war. Bedos öffnete die Augen und lächelte.

„Mein Sohn, du lebst. Den Göttern sei dank.“

„Rede nicht Vater, es strengt dich zu sehr an.“

„Es ist sowieso zu spät, mein Junge, „das weißt du so gut wie ich. Nimm mein Schwert und suche Meister Arillion. Er muß erfahren, was hier geschehen ist. Schwöre es mir!“

Bane nickte.

„Sag Meister Arillion die Dunkle Flut sei angebrochen!“

„Die Dunkle Flut?

„Ja, mein Sohn. Das Ende ist gekommen!“

 

 

- Ende des ersten Teils -

 

 

 

1999 by Ingo Löchel

 

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