Wolfsfluch
Das Gewehr mit der Rechten fest umschlossen, hastete
ich durch den finsteren Wald. Ich war auf der Jagd! Auf der Jagd nach einem
Manne, der am heutigen Abend einen der Gäste des Herzogs auf bestialische Weise
hingerichtet hatte. In das Liebeszimmer hatte er den unschuldigen Burschen
gelockt und war dort über ihn hergefallen, wie ein wildes Tier über seine
Beute. Noch immer verspürte ich ein Gefühl der Übelkeit, wenn ich an den
Anblick des toten Knaben zurückdachte, dessen junger Körper voller Risse und
Striemen und von Blut überströmt gewesen war. Der Fremde, den man nie zuvor auf
einem der höfischen Feste gesehen hatte, hatte den jungen Adligen verführt und
mit ihm seine abstrusen Spiele gespielt - getrieben von seinen augenscheinlich
krankhaften Neigungen. Doch jetzt waren es meine Männer und ich, die diesem
tödlichen Spiel ein Ende bereiten würden. Ein jeder, der eine Waffe zu bedienen
vermochte, hatte den Schutz des herzoglichen Schlosses verlassen und sich in
den Wald begeben, um das Untier zu jagen und zur Strecke zu bringen. Weit
konnte der Mann nicht sein. Und wir – seine unerbittlichen Verfolger - waren
ihm gnadenlos auf den Fersen.
Ich kämpfte mich durch das Unterholz, schlug die
dünnen Äste zur Seite und bahnte mir meinen Weg unaufhaltsam tiefer und tiefer
in das Dickicht hinein. Der Schein des Mondes drang nur schwach durch die
gespreizten Baumwipfel hindurch, doch das Licht reichte aus, um meine
Orientierung nicht zu trüben.
Und schließlich erblickte ich den Gesuchten vor mir.
Er war es ohne Zweifel, denn ich erkannte ihn sofort. Er saß nur da und starrte
auf einen kleinen Tümpel. Mit dem nackten Rücken zu mir sitzen, auf dessen
weißer Haut sich der Mondschein spiegelte, bemerkte mich der Fremde mit den
dunklen Locken nicht. Ich war im Vorteil, ich brauchte nur mein Gewehr auf ihn
zu richten und abzudrücken. Doch irgendetwas hielt mich davon ab. Ich wusste
nicht genau was es war, aber ich konnte meinen Blick nicht von diesem seltsamen
Geschöpf abwenden. Trotz seiner gekrümmten Haltung, strahlte der Fremde eine
sonderbare Art der Würde aus. Er wirkte verletzlich und animalisch zugleich. In
mir wuchs das Verlangen, seinen blanken Rücken zu streicheln und ihn in die
Arme zu nehmen. Ihn zu liebkosen und seinen Körper mit meinen Küssen zu
verwöhnen. Im selben Augenblick hätte ich mir am liebsten eine Ohrfeige
verpasst. War ich denn noch bei Sinnen? Noch nie hatte ich ein Interesse an
meinem eigenen Geschlecht gehegt. In Adelskreisen mochten solcherlei Affairen
wohl Gang und Gebe sein, doch ich für meinen Teil hatte mich immer an die holde
Weiblichkeit gehalten. Umso erstaunter war ich, dass ich mich zu dem Fremden
hingezogen fühlte. Die schreckliche Tat, die er kurz zuvor begangen hatte, trat
immer mehr in den Hintergrund meines Bewusstseins, bis sie schließlich ganz an
Bedeutung verlor. Vorsichtig trat ich aus meinem Versteck und positionierte
mich direkt hinter dem Schönen, der sogleich seinen Kopf in den Nacken warf und
ein seltsames Stöhnen aus seiner Kehle stieß.
„Ich habe auf dich gewartet, Balduin“, hauchte er in
die Stille der Nacht und jedes seiner Worte erschütterte mich trotz ihrer
Sanftheit zutiefst. Woher kannte er meinen Namen? Wie hatte er mich bemerken
können, obwohl ich mich doch so lautlos angeschlichen hatte? Mit raubtierhafter
Anmutigkeit sprang der Fremde auf, drehte sich dabei zu mir herum und blickte
mich mit seinen Katzenaugen eindringlich an. Ich spürte, wie mir der Schweiß
auf die Stirn trat. Ich konnte diesem vor Leidenschaft brodelnden Blick kaum
standhalten. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Zärtlich fuhr er mir mit der
Hand über die Wange und streichelte sie sanft.
‚Vergiss nicht, warum du hier bist’, ermahnte ich
mich selbst. Ich wollte diesen Verbrecher zur Strecke bringen! Er war
gefährlich, der Teufel selbst mochte in dieser maskulinen Brust schlummern. Und
doch... ich spürte, wie mein Verlangen wuchs, ich wollte mich ihm hingeben, ihn
in mir spüren und mich in ihm. Nie zuvor hatte ich einen Menschen so sehr
begehrt, wie diesen Fremden, der mein Blut schon allein durch seinen Anblick in
Wallung brachte. Was ging hier nur vor sich? Wieso hatte dieser Mann solche
Macht über mich? Hatte ich nicht die Macht über ihn? Sein Leben lag in meiner
Hand. Ich hätte nur zu schreien brauchen und meine Gefährten wären aus ihren
Verstecken gekrochen, um über dieses Scheusal mit dem Äußeren eines Engels
herzufallen und ihn zu richten. Seine animalische Anziehungskraft war es, die
mich davon abhielt und die unersättliche Gier nach diesem Kerl in mir weckte.
Es musste etwas Übernatürliches sein! Jede der Berührungen, die er mir
schenkte, erzeugte kleine Blitze auf meiner Haut und brachte die Luft zum
Knistern.
„Du wirst mich nicht verraten, Liebster“, flüsterte
er in mein Ohr und begann meinen Hals zu küssen. Ich spürte, wie ich der
Versuchung immer mehr erlag. Benommen sackte ich auf die Knie, ließ mich von
ihm verwöhnen und küssen, oh ja, küssen konnte er gut...
Alles um mich herum verlor an Bedeutung. Selbst wenn
mich die anderen so gefunden hätten, hätte ich wohl keine Scham verspürt. Ich
stand unter dem zauberhaften Bann dieses Mannes. Mit seinen Händen befreite er
mich schnell von meinem Rüschenhemd. Dann ließ er seine raue Zunge über meine
Brust wandern, dabei spielte er mit jedem meiner Muskeln, liebkoste sie und gab
dabei solch unwiderstehliche, grollende Laute von sich, dass es mir eiskalt
über den Rücken lief. Seine Erregtheit nahm mit jeder Sekunde zu. Immer wilder
wurde er, immer stürmischer und leidenschaftlicher. Genießerisch schloss ich
die Augen und ließ ihn gewähren. Seine Nägel bohrten sich so tief in meine
Haut, dass ich befürchtete, er würde mir ein Stück Fleisch aus dem Leib reißen.
Doch der Schmerz steigerte meine Lust. Seine Küsse wandelten sich in Bisse und
sein Stöhnen glich nun viel mehr dem Knurren eines wilden Tieres. Ohne
Vorwarnung wirbelte er mich herum. Ich lag auf dem Bauch und spürte, wie er mir
die Hose zerriss. Und plötzlich sträubte sich alles in mir gegen dieses Spiel.
Mein Verlangen schwand, als wäre der Zauber, der mich zuvor gefügig gemacht
hatte, gebrochen. Doch mein ungestümer Galan schien sich an meinem plötzlichen
Widerwillen nicht zu stören und beabsichtigte noch immer, seine Triebe an mir
zu befriedigen. Wutentbrannt drehte ich mich herum und starrte voller Entsetzen
in die Fratze einer unmenschlichen Kreatur. Über mir ragte ein Untier auf, ein
Scheusal, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Von Kopf bis Fuß behaart, in
einen solch dichten Pelz gehüllt, glich die Kreatur mehr einem Tier als einem Menschen.
Er war ein Werwolf. Die Erkenntnis lähmte meine Atemwege. Ich spürte, wie sich
meine Kehle zusammenzog und brachte nur ein gequältes Husten heraus. Schon
allein der Anblick dieser muskelbepackten Bestie drohte mir fast den Verstand
zu rauben, doch als sich die Pranke auch noch in mein Fleisch bohrte, hatte ich
das Gefühl gänzlich dem Wahnsinn zu erliegen. Mein Schrei, der unmenschlicher
nicht klingen konnte, hallte durch den Wald und schreckte die Nachtvögel in den
Baumkronen auf, so dass sie sich in einem gewaltigen Schwarm in die Luft
erhoben und hektisch mit den Flügeln schlagend, das Weite suchten. Wie gern
wäre ich doch auch ein Vogel gewesen. Nichts wollte ich lieber als dieser
Missgeburt zu entfliehen.
Langsam schwand der Schmerz in meiner Schulter. Das
Monster hatte seine Krallen eingezogen und blickte auf mich herab. Täuschte ich
mich, oder sah ich in den Augen dieser Kreatur keine Mordlust sondern gar etwas
wie Zuneigung aufblitzen? Verunsichert kroch ich unter dem Wesen hervor,
welches mindestens 2 Schritt messen musste, und starrte es verwirrt an. Mit der
linken Hand hielt ich meine Schulter, aus der das Blut noch immer hervorquoll
und sich seinen Weg über meine nackte Haut bahnte. Doch die Qual vergaß ich
schnell, denn im selben Augenblick erregte die Missgeburt erneut meine
Aufmerksamkeit. Schwerfällig schob sie mir das Gewehr zu, welches ich während
unseres Liebesspieles beiseite gelegt hatte. Verunsichert starrte ich die Waffe
an, die nun zu meinen nackten Füßen lag.
„Töte mich!“, erklang die grollende Donnerstimme aus
dem Rachen des Untiers.
„Was?“
„Du sollst mich töten!“
„Aber... aber...“
Mit zitternden Fingern wischte ich mir den
Angstschweiß von der Stirn. In Gedanken ermahnte ich mich dazu, Ruhe zu
bewahren. Die Gefahr schien offensichtlich vorüber. Die Bestie wollte mich
nicht zerfleischen, im Gegenteil, sie verlangte ihren eigenen Tod.
„Warum?“ presste ich hervor.
Im selben Augenblick glaubte ich die Antwort zu
kennen. Welch Leben musste dies Scheusal führen? Mal in der Gestalt eines
gutaussehenden Jünglings und mal in der Gestalt dieses widerwärtigen Dings. Ein
Fluch, da war ich mir sicher, musste auf diesem bedauernswerten Wesen liegen.
Und vielleicht war es auch dieser Fluch, der den Fremden dazu zwang, seine
Opfer zu töten, wie den jungen Burschen auf dem Fest des Herzogs.
Als hätte das Wesen meine Gedanken gelesen, sprach
es leise: „Ich ertrage es nicht länger, der Sklave meiner Mordtriebe zu sein.
Wenn ich des Morgens erwache und mir bewusst wird, welch Gräueltat ich am Abend
zuvor beging, so möchte ich mir am liebsten selbst das Herz herausreißen. Ich
flehe Euch an, setzt meinem verhassten Dasein ein Ende. Tut es schnell, bevor
meine animalischen Triebe erneut die Macht über meinen Verstand ergreifen und
ich Euch wie ein Lamm zerreißen muss.“
Zitternd ergriff ich das Gewehr und richtete es auf
den Wolfsmenschen, der vor mir hockte und den Kopf demütig senkte. Ich zielte,
wollte abdrücken, doch merkte im selben Augenblick, dass ich es nicht tun
konnte. Das Mitleid hielt mich davon ab und auch dies sonderbare Gefühl der
Zuneigung, welches ich für den zauberhaften Jüngling kurz zuvor empfunden
hatte. Was sollte ich tun?
„Tut es jetzt!“, beschwor mich der Werwolf erneut.
„Ich kann nicht“, hauchte ich verzweifelt.
Die Augen des Ungeheuers funkelten tückisch. Ich
fürchtete das Monster würde sich jede Sekunde erneut auf mich stürzen und
tatsächlich baute es sich im selben Augenblick zu seiner vollen Größe vor mir
auf. An den Lefzen der langen Schnauze konnte ich die weißen Reißzähne hervorblitzen
sehen und ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit.
„Wenn du mich nicht tötest, werde ich dich töten
müssen“, fauchte der Werwolf und riss dabei das Maul so weit auf, dass ich
glaubte seinen Schlund hinab direkt bis auf seinen Magen blicken zu können.
Voller Zorn hob die Bestie die Pranken, wohl in der Absicht, sie in mein
Gesicht zu rammen und mich wieder zu Boden zu stürzen, um mich schließlich in
tausend Teile zu zerreißen und sich an meinem Fleisch zu laben. Erneut fühlte ich
mich in die Rolle des Opfers zurückgedrängt. Steif, die Glieder vor Angst
gelähmt, stand ich nur da und ergab mich dem Unvermeidlichen. Ein Brüllen
schlug mir entgegen, welches so gewaltig war, dass es mir fast die Haut vom
Körper riss. Ich hatte Angst, solch große Angst, wie noch nie zuvor in meinem
Leben. Mein Körper erzitterte, als hätte ich bereits die Kontrolle über ihn
verloren, doch dann fiel mir das Gewehr ein, welches ich noch immer in den
verkrampften Händen hielt. Mit einem einzigen, lauten Schrei drückte ich ab.
Der Knall zerbarst die Luft. Ihm folgte ein qualerfülltes Gurgeln, welches
direkt aus der Kehle dieser Abart der Natur drang. Und schließlich sackte der
Werwolf vor meinen Augen auf die Knie. Seine Pupillen waren weit aufgerissen,
quollen fast hervor, als wollten sie aus ihren Höhlen springen und starrten
mich voller Entsetzen an, als würde er den eigenen Tod nicht begreifen. Noch
während er zu Boden glitt, konnte ich sehen, wie sich das dichte Fell langsam
zurückbildete und die blanke, weiße Haut des Jünglings zum Vorschein kam. Nun
lag er da, in seiner grenzenlosen Schönheit und mir stiegen die Tränen in die
Augen. Schluchzend kniete ich neben diesem bildschönen Geschöpf nieder und
versuchte, ihn erneut zum Leben zu erwecken. Doch es war zu spät, der eisige
Mantel des Todes hatte sich bereits um ihn gelegt.
Ich weiß nicht, wie lange ich bei dem Schönen am
Boden gesessen und geweint hatte, doch irgendwann, gegen Morgengrauen, hatten
mich meine Gefährten gefunden, mir eine Jacke um die Schultern gelegt und mich
ins Schloss zurückbegleitet.
„Ihr habt Recht daran getan, diesen Mörder zu
töten“, sagten mir die anderen, doch ihre Worte prallten an mir ab und schienen
ohne jedwede Bedeutung. Mein Herz schmerzte, ich fühlte mich schuldig. Und doch,
ich hatte den Wolfsmenschen von seinem Leid erlöst und wohlmöglich Tausenden
das Leben gerettet. Denen, die den gleichen Fehler begangen hätten wie ich und
in seine Falle der Sinnlichkeit getappt wären. Mit unerklärlicher Verzückung
musterte ich die Narben an meinem Körper, die er mir zugefügt hatte, ohne zu
ahnen, dass durch die leidenschaftlichen Bisse sein Fluch auf mich übergetreten
war...