Frank Black

 

 

Chapter VII

 

Blood of your Innocence

 

 

 

Wie erstarrt stand ich im großen Eingangsportal der Alten Kathedrale und glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Van Helsing, der Name klang wie ein Witz in meinen Ohren. Allerdings, wieviel unglaubliche Dinge hatte ich in dieser einzigen, kurzen Nacht, die sich nun schon dem Morgen entgegenneigte, bereits erlebt. Nachdenklich betrachtete ich die glasklare Pfütze zu meinen Füßen, in der winzige Kristallsplitter tausendfach das Licht der Kerzen brachen.

 

„Komm zurück, ich kann dir wirklich helfen.“ Die Stimme hinter mir riss mich aus meinen Gedanken. „Du kannst jetzt nicht mehr hinaus gehen, bald geht die Sonne auf, und dann bist du verloren“

 

„Bist du sicher,“ fragte ich zurück, „immerhin stehe ich jetzt auch in einer Kirche, wer hätte das gedacht.“

 

„Du hast recht,“ erhielt ich die resignierende Antwort, „ geh raus und probiers aus, die Sonne geht gerade auf. Ich komme aber mit bis zur Tür, denn ich will mir das Schauspiel mal aus der Nähe ansehen. Bis jetzt habe ich erst einmal aus großer Entfernung beobachtet, wie einer aus dem Schatten in die Sonne trat. Ich bin gespannt, los, geh!“

 

Vor mir streifte ein kleiner Sonnenstrahl die bunten Teppiche des Kirchenvorraums. Vorsichtig streckte ich meine Hand in das Licht. Ein Sonnenstrahl strich langsam über meine Hand, berührte meine Fingernägel und schob sich langsam über die Finger. Nichts geschah. Ich drehte meine Hand im Sonnenlicht hin und her. Plötzlich begann meine Haut leicht zu kribbeln. Ein unangenehmes Jucken und Sticheln zog über meine Hand und wandelte sich allmählich in ein lästigtes Brennen. Die Haut färbte sich rot und begann kurz darauf, kleine Blasen zu bilden.

Instinktiv wich ich einen Schritt ins Kirchenschiff zurück. Die Macht dieses Ortes legte sich auf mich, wie ein Summen elektrischer Energie in der Luft. Mit einem Mal fühlte ich mich sicher und beschützt. Hier konnte ich sorglos den Tag verbringen. Eine gute Gelegenheit, dem seltsamen Priester van Helsing einige Fragen zu stellen.

 

„Also gut, ich bleibe hier, aber ich brauche etwas zu trinken, bevor mich der Hunger überfällt Ach ja, und eine Flasche Sonnenmilch bitte.“

 

„Kein Problem,“ grinste er mit seiner Schädelfratze, „ich weiß schon was du brauchst. Auch Priester sind Menschen, auch wenn sie auf gewisse Dinge verzichten müssen.“

Dabei zwinkerte er mir zu und winkte, ihm zu folgen.

 

Er ging mir voran den Hauptgang hinunter und bevor er sich nach rechts wandte, bekreuzigte er sich mit einer schnellen Geste vor dem Geopferten. Bei dieser Handbewegung liefen mir kribbelnde Schauer den Rücken hinunter und ich stand wie unter Spannung. Mit einem prüfenden Blick schaute ich der Gestalt in ihr gequältes Antlitz und folgte dem Priester durch eine kleine Seitentür hinter die Kanzel. Dieser schloss nach mir den eisernen Riegel, und ging durch den kleinen, sparsam eingerichteten Raum zu einem alten hölzernen Wandschrank. Er öffnete eine Tür und trug eine Glaskaraffe mit einer bräunlichen Flüssigkeit und zwei wunderschön geschliffene Kristallbecher zu dem wackligen Tisch in der Mitte des Raumes.

 

„Setz dich, und nimm einen Schluck, ich schätze, du hast es nötig.“

 

„Allerdings“

Ich setzte mich und kam unverzüglich dem zweiten Teil seiner Aufforderung nach. Ohne zu zögern, goss ich mir zwei Fingerbreit der braunen Flüssigkeit, welche sich als erstklassig ausgereifter Scotch entpuppte, in die Kehle. Ich schenkte mir ein weiteres Glas ein, lehnte mich zurück und sah dem Priester, der sich mir gegenüber niedergelassen hatte, in die Augen.

 

„Wer bist du, Priester van Helsing?“

 

„Dasselbe könnte ich dich auch fragen. Du kommst in meine Kirche, stirbst fast und willst dann einfach so wieder verschwinden. Das ist nicht unbedingt die feine Art, jemandem seine Dankbarkeit für eine Lebensrettung zu vermitteln. Aber genug der Vorwürfe, ich bin froh, dass mich mal wieder jemand in meinem Hinterzimmer besuchen kommt. Besonders, wenn es so ein Gast ist, wie du einer bist.“

 

Ich schaute ihn fragend an. Die Verwicklungen, in die ich geraten war, schienen meine Auffassungsgabe seit einiger Zeit konsequent zu überschreiten. vielleich lag es aber nur daran, dass niemand mit mir ein klares Wort reden wollte. Ich tappte durch die Welt wie ein junger Hund mit verbundenen Augen.

 

„Was weißt du über mich?“ fragte ich.

 

„Tja, über dich persönlich eigentlich nichts.“

Abwehrend hob er eine Hand, als ich ihn unterbrechen wollte.

„Aber du bist so eine Art Prophezeihung. In Dokumenten, die sich mit der Plage der Nacht befassen, taucht immer wieder die Legende von dem Einen auf, der in die Nacht tritt, ohne zu sterben. Sehr mysteriös das Ganze, und verschlüsselt, wie alle diese alten Dokumente. Aber, du weißt ja, ein Körnchen Wahrheit steckt immer tief drinnen. man muss nur lange genug scharren“

Er grinste mich an.

„Der Haken an dieser Prophezeiung, wenn ich es mal so nenne, ist die Frage, auf welche Seite sich dieser Eine stellen wird. Denn wie die Wahl fallen wird, so wird das Schicksal den Weg weiter bereithalten. Als Führer der Schatten der Nacht zu einer Herrschaft des Grauens, des blutigen Terrors und des Todes oder als der schwarze Kämpfer gegen die Plage. Der Kämpfer, der selbst nie erlöst werden kann, da er selbst ein verstoßenes Geschöpf der Nacht ist. Der die lange Jagd fortführen muss, bis zum finalen Kampf des Guten gegen den Bösen.“

Er nahm einen tiefen Schluck, betrachtete nachdenklich den Boden seines leeren Glases und sah mir dann mit sorgenvollem Blick in die Augen.

„Und dieser Kämpfer oder Führer solltest du zu sein. Du stehst bald vor der Entscheidung, für welche Seite du deine besonderen Kräfte einsetzen wirst. Und die Wahl wird allein bei dir liegen, und du allein musst die Folgen verantworten.“

 

„Verdammt,“ fluchte ich, „das Letzte was ich will, ist irgendein Superheld in einer Schlacht um die Weltherrschaft zu sein. Alles was ich will, ist in aller Ruhe vor mich hin leben, eine Frau heiraten, Kinder haben und sogar arbeiten gehen. Also ein stinknormaler Mensch sein. Gibt es denn keinen Weg zurück?“

 

„Vieleicht gibt es einen Weg, und wir werden weiter warten müssen auf den Kämpfer aus den Schriften. Vieleicht ist es auch viel besser so. Du scheinst mir zu wankelmütig und den Verlockungen des Bösen viel zu anfällig zu sein. Suche du also deinen Weg zurück, und beide Seiten werden weiter warten.“

 

„Kannst du mir etwas über diesen Weg sagen, wo muss ich suchen, wen soll ich fragen? Gibt es darüber keine Dokumente?“

 

„Ich kann versuchen, etwas darüber herauszufinden. Du musst mir nur etwas Zeit geben, in den Archiven zu suchen. Du musst wissen, diese Kathedrale ist keine gewöhnliche Kirche. Unter den Fundamenten des Hauptschiffes liegt eine uralte Katakombe, die pilgernde Mönche in den damaligen Stammesgebieten angelegt haben. Aber die Katakombe hat die Jahrhunderte fast unbeschadet überdauert. Und ebenso wurde über die Jahre hinweg der Schriftenbestand dieser geheimen vergrabenen Bibliothek erweitert und zusammengetragen. Ich habe dort auch die Dokumente gefunden, welche die Hinweise auf das Erscheinen des Einen beinhalten. Allerdings habe ich auch intensive Nachforschungen danach betrieben, denn mein und das Interesse meiner Vorfahren, bewegte sich stark in diese Richtung. Nun ja,“ dabei schenkte er unsere Gläser ein weiteres Mal ein und blickte mich über den Rand seines Glases an, „vieleich erzähle ich dir ja mal bei einem guten Glas Scotch die Geschichte meiner Familie. du wärst sicher überrascht.“

 

„Falls ich meine Angelegenheit jemals zu einem glücklichen und vor allem lebendigen Ende geführt haben werde, können wir sicher darüber nachdenken, uns vor dem Kamin bei alten Geschichten zusammen zu betrinken, aber jetzt habe ich andere Dinge zu klären. Zumal ich mich in meinem jetzigen Zustand überhaupt nicht betrinken kann, jedenfalls nicht mit Alkohol.“

 

Abrupt stellte van Helsing sein Glas auf den Tisch. Mit geweiteten Augen starrte er mich an.

„Du hast bereits Blut gekostet, nicht wahr? Du kennst den Geschmack und das Hochgefühl, das einen packt, wenn man Blut frisch sprudelnd aus einer menschlichen Kehle schlürft. Wenn sich der Mund im Rhythmus des ersterbenden Pulsschlages wieder und wieder füllt.“

Er fuchtelte fahrig mit einer Hand durch die Luft.

„Ich schweife ab. Aber es stimmt, du hast bereits das Blut deiner Unschuld vergossen und getrunken.“

 

„Ja, du hast recht, ich konnte nicht anders, als ich das Blut fließen sah, musste ich einfach trinken. Ich war kein Mensch mehr, Ich war nur Gier und Hunger.“

 

„Das erschwert deine Lage allerdings enorm, jedenfalls dann, wenn du den Weg des Guten,“ - dabei wackelte er spöttisch mit dem Kopf - „beschreiten oder auch nur wieder ein normaler Mensch werden willst. Du bist jetzt wie ein trockener Alkoholiker, bei jedem Tropfen Blut, den du siehst, wirst du in einen Rausch und in Raserei verfallen. Einen gewissen Schutz kann nur ein gesunder Pegel Medizin im Blut bringen, also, Prost!“

Mit diesen Worten hob er sein Glas, nickte mir zu und stürzte die Flüssigkeit in einem Zug hinunter. Ich tat ihm nach und als ich mein Glas abstellte, hielt er schon wieder die Flasche bereit, um erneut aufzufüllen. Mir schien langsam, dass dieser van Helsing nur jemanden gesucht hatte, um mal richtig einen zu saufen. Allerdings schien er eine Menge zu vertragen, denn sein Blick blieb klar und seine Bewegungen wurden weder wirr noch unsicher.

 

Er drehte sein Glas in der Hand und fuhr mit seinen Erklärungen fort.

„Allerdings gibt es noch etwas, das dich schützen kann. Aber ich denke, das Risiko, da ran zu kommen, ist viel zu groß.“

 

„Was ist es, was kann mich schützen? Was habe ich schon noch zu verlieren, mein Leben ist eh verpfuscht.“

 

„Deine Seele, mein Freund, deine Seele. Das Kostbarste was jeder Mensch besitzt. Die menschliche Seele sollte man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, zu hoch ist der Preis. Noch ist nicht alles verloren. Du hast doch vorhin das Licht gesehen, das dich angezogen und gelockt hat?“

Ich nickte.

„Nun, wenn du getötet wirst, in diesem Sinne jedenfalls, du weißt, was ich meine, wird deine Seele sich dem Licht nähern und es umkreisen, aber der Fluch, der auf ihr lastet, wird verhindern, dass deine Seele sich mit dem Licht vereinigt. Bis in alle Ewigkeit wird sie es umkreisen und einen Weg hinein suchen, aber niemals einen finden. Das ist die Hölle, mein Freund, und nichts anderes.“

 

Wiederum prostete mir van Helsing zu und stürzte sein Glas hinunter.

 

„Woher hast du das Wissen darüber, van Helsing, du bist doch kein normaler Priester. Du weißt noch viel mehr, als du mir sagen willst. Wieso kennst du dich mit den Wesen der Nacht so gut aus, weißt du vielleicht auch etwas über den Meister?“

 

„Oh, du hast schon vom Meister gehört. Hüte dich vor dem Meister, er ist uralt und mächtig. Natürlich weiß ich etwas über ihn. Er ist die eine Person, die in so vielen Sagen und Legenden erwähnt wird. Meine Familie hat ihn und seine Brut schließlich über Jahre und Jahrhunderte verfolgt und ausgemerzt. Er ist übrigens nicht derjenige, an den du jetzt denkst, der ist nur eine Gestalt der Literaturgeschichte. Der Meister hat keinen Namen mehr. Er ist viel zu alt, ich glaube, er hat seinen ursprünglichen Namen längst selbst vergessen. Übrigens war mein Ur- oder Ururgroßvater der Hausarzt von Stokers Mutter, deshalb der bekannte Name. Stoker selbst hatte nie eine Ahnung, dass die Wesen aus seinem Roman so oder ähnlich existieren könnten. Wieder einmal der Fall, dass sich Fictionen als längst vorhandene Wahrheiten herausstellen. Egal, immerhin hat mein Name dich veranlasst, hierzubleiben. Und in gewisser Weise bin auch ich mit den Geschöpfen der Nacht verkettet. denn auch auf mir lastet ein Fluch. Allerdings nicht sonderlich tragisch, eher lästig. Heh, hörst du mir überhaupt noch zu?“

 

Sein lauter Ruf ließ mich aufschrecken. Ich war auf meinem Stuhl eingenickt, und das Glas in meiner Hand neigte sich bereits gefählich zur Seite. Schnell fasste ich es fester und stürzte den Rest hinunter.

 

„Ich sollte mich besser in eine dunkle Ecke verkriechen und den Tag verschlafen,“ ich erhob mich und streckte mich und gähnte herzhaft, „ich bekomme sowieso nichts mehr mit. Lass uns am Abend weiterreden. Ich denke, es gibt noch einige ungesagte Dinge. Mir scheint, es stellen sich jedesmal mehr neue Fragen, als ich Antworten erhalte.“

 

„Ist das ganze Leben nicht die größte unbeantwortete Frage? Verzweifle nicht, mein Freund, einige der Fragen werde ich dir schon heute am Abend beantworten können. Ich werde mich im Keller vergraben und in den Archiven wühlen, möglicherweise finde ich ja ein Körnchen der Wahrheit unter all den Sagen und Geschichten. Du kannst den Tag hier drin verschlafen, der Raum hat keine Fenster und den einzigen Schlüssel zu dieser Tür habe ich immer bei mir. Ich hole dir noch ein paar Decken, und dann lasse ich dich in Ruhe.“

 

Während der Zeit in der ich auf die Rückkehr van Helsings wartete, genehmigte ich mir noch einen Drink. Obwohl ich kaum noch die Augen offen halten konnte, schwirrte mein Kopf von den Fragen und Erklärungen des Priesters. Ich war mit dem festen Vorsatz umgekehrt, Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten. Statt dessen hatte ich Geschichten gehört und fast nichts erfahren. Und Mariana hatte ich gänzlich vergessen. Am Abend würde ich mich schleunigst auf die Suche machen müssen. Denn eigentlich hatte ich keine Zeit für die Kamingeschichten eines versponnen Priesters. Ein lästiger Fluch, was für ein Quatsch, dieser Mensch hatte scheinbar keine Ahnung, was wirklich lästig war.

 

In diesem Moment tauchte van Helsing mit einem Arm voll Decken auf, die er auf der Holzbank ablegte.

 

„Mach es dir bequem, ich werde die Tür abschließen, dann kannst du in aller Ruhe den Tag verschlafen. Ich werde in dieser Zeit die Katakomben aufsuchen, vielleicht kann ich dir heute Abend schon ein paar Antworten geben.“

 

In einem plötzlichen Aufwallen von Misstrauen hielt ich die Hand auf.

„Gib mir den Schlüssel, ich werde von innen verschließen. Ich möchte kein Risiko eingehen. Das verstehst du sicher.“

 

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